Mehr Strassen schaffen mehr Verkehr – nicht weniger Stau
Beitrag für das Jahrbuch Strassenverkehr 2025 – geschrieben für David Raedler, Co-Präsident VCS Verkehrs-Club der Schweiz.
Unlängst wartete ich an einer Bushaltestelle am Stadtrand und schaute dem Verkehr zu. Auto an Auto reihte sich in der Rush Hour aneinander, die Fahrerinnen und Fahrer – die meist allein in ihren Fahrzeugen sassen – blickten geradeaus. Kolonnen zwängten sich an Fassaden vorbei. Wenn die Häuser nicht dastünden, könnte man die Strassen verbreitern, denke ich. Aber nein: Wenn die Häuser nicht wären, gäbe es vermutlich gar keine Strassen.
Bis in die hintersten Täler haben wir uns niedergelassen. Und zu all diesen Siedlungen führt eine mehr oder weniger gut ausgebaute, mitunter auch enge oder gefährliche Strasse. Wenn es zu eng und zu gefährlich wird, wird die Strasse asphaltiert, verbreitert, verbessert. Stück um Stück wächst der Strassenraum.
Dasselbe Konzept gilt auch anderswo, wenn dem Strassenverkehr der Teppich ausgerollt werden soll: Gibt es in einem städtischen Quartier jeden Abend Stau, wird zugunsten einer breiteren Strasse auch mal eine Reihe alter Bäume hingerichtet. Und steht man auf der Autobahn im Stau, kommt alsbald ein windig-wendiger Politiker daher und fordert mehr Fahrspuren. Der Politiker verspricht, dass sich damit der Stau in Luft auflöst und letztlich alle zufrieden sind. Die Quartiere würden von Rückstaus befreit, in den Ortschaften gäbe es keinen Kolonnenverkehr mehr und die Städte seien zum Feierabend nicht mehr verstopft. So erzählt er.
Bloss: Er irrt! Die Strassen sind erstens in der Regel nur zu den Spitzenzeiten überlastet, während die bestehende Infrastruktur in der übrigen Zeit bei weitem ausreicht. Ausserdem kommt es zweitens zur Überlastung der Strassen, weil in den Autos – gemäss Bundesamt für Statistik – gerade zu Pendlerzeiten durchschnittlich nur 1,1 Personen sitzen. Das ist reichlich ineffizient. Drittens produzieren mehr Strassen neuen Bedarf. Wird eine Autobahn ausgebaut, erhält sie mehr Kapazität. Das merken auch jene, welche die Autobahn bislang nicht benutzt haben. Also nehmen auch sie die Auffahrt zur verbreiterten Autobahn, finden es praktisch und helfen mit, sie gleich wieder zu verstopfen.
Das Resultat kennen wir aus dem Effeff: Jedes Mal, wenn es auf den Strassen eng wurde, sind die Bagger aufgefahren. Die Strassen wurden verbreitert, neue Kapazitäten geschaffen. Das hat jeweils für eine kurze Zeit gewirkt und es gab an den neuralgischen Stellen weniger Staus. Doch ein paar Jahre später wurde es schon wieder eng. Und was hat man gemacht? Die Bagger sind aufgefahren, die Strassen wurden erneut verbreitert, neue Kapazitäten geschaffen. Gelernt hat man nichts – der Teufelskreis dreht munter weiter.
Letztlich ist auch die Geschichte von den entlasteten Städten und Quartieren eine Mär. Wir leben ja nicht auf der Autobahn. Jedes Fahrzeug, welches auf der Autobahn fährt, hat dafür eine Siedlung durchquert, ist durch einen Stadtteil oder ein Dorf gefahren und muss am Ende auf einem Parkplatz abgestellt werden. Je mehr Autos nun also auf der Autobahn unterwegs sind, umso öfter fahren Autos am Anfang und am Ende der Strecke über kleinere – sogenannt untergeordnete – Strassen.
Und trotz dieser offensichtlichen und vielfach bewiesenen Tatsachen wird sich die Schweiz gerade am Erscheinungstag dieses Jahrbuchs inmitten einer neuerlichen Ausbau-Diskussion befinden. Bundesrat und Parlament versprechen, dem Stau ein Ende zu setzen und wollen dafür wieder einmal die Autobahnen verbreitern. Wir vom VCS Verkehrs-Club der Schweiz haben dagegen das Referendum ergriffen – weil der Ausbau die Probleme nicht löst, sondern nur vertagt und verschärft. Ich werde sicher Nein stimmen – damit wir die Fehler der Vergangenheit nicht immer wieder aufs Neue wiederholen. Und Sie?
Der Beitrag wurde für David Raedler verfasst und erschien im Jahrbuch Strassenverkehr 2025.