Tempo-30- und Begegnungszonen, Velo- und Schulstrassen: In verkehrsberuhigten Zonen herrscht gleichsam eine babylonische Sprachverwirrung. Auch die jeweils geltenden Verkehrsregeln sind mitunter nicht allen klar. Das VCS-Magazin sagt, was gilt.
Gerade 35 Jahre ist es her, als der Bundesrat die Grundlage geschaffen hat, um in Wohnquartieren Tempo-30-Zonen einzurichten. Das war der eigentliche Startschuss zur Verkehrsberuhigung. 1990 entstand dann in Winterthur die erste Tempo-30-Zone. Viele weitere im ganzen Land folgten. Mittlerweile gibt es in der Stadt Zürich rund 370 Kilometer Strassen in Tempo-30-Zonen. Die Entwicklung wird auch angekurbelt durch Vereinfachungen: 2023 ist die Gutachtenpflicht entfallen, welche zuvor langwierige Bewilligungsprozesse verursachte.
30 ist das neue 50
Unterdessen wohnen rund 40 Prozent der Schweizer Bevölkerung an einer Tempo-30-Zone und geniessen deren Vorzüge. Niemand möchte zum alten Temporegime zurück.
«Wohnquartiere sind lebenswerter geworden », blickt VCS-Verkehrssicherheitsexperte Michael Rytz zurück. «Mit 30 km/h wird der Verkehrslärm gegenüber Tempo 50 halbiert. Schulkinder, Velofahrerinnen und Fussgänger fühlen sich sicherer.» Tatsächlich sinkt die Zahl der schweren Unfälle nach Einführung von Tempo 30 um ein gutes Drittel.
An Einmündungen und Kreuzungen gilt in Tempo-30-Zonen Rechtsvortritt – sofern keine andere Regelung signalisiert ist. Ausserdem haben Fahrzeuge – mit der gebotenen Vorsicht – auch dann Vortritt, wenn die achtjährige Lena zur Schulfreundin auf die gegenüberliegende Strassenseite wechselt oder Rentner Bieri im Bioladen vis-à-vis einkaufen gehen will. Fussgängerstreifen, welche ihnen Vortritt gewähren würden, sind praktisch nicht existent.
Solche sind nämlich in der «Verordnung über die Tempo-30-Zonen» explizit ausbedungen: «Die Anordnung von Fussgängerstreifen ist unzulässig», steht da geschrieben. Ausnahmen sieht der Artikel allerdings vor: etwa bei Schulen und Altersheimen. Auch vor dem Bundeshaus in Bern ist ein Fussgängerstreifen aufgemalt – trotz Tempo-30-Zone. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt!
Wo es keinen Fussgängerstreifen gibt – in Tempo-30-Zonen also fast überall – haben Fahrzeuge Vortritt. Velos ebenso wie Autos, Last- und Lieferwagen oder Motorräder. Wird Fussgängerinnen und Fussgängern Vortritt gewährt, ist das Goodwill. «Dessen sind sich viele nicht bewusst. Das kann gelegentlich auch auf eigentlich ruhigen Quartierstrassen zu heiklen Situationen führen», sagt Verkehrssicherheitsexperte Rytz.
Strasse als Begegnungsort
Anders ist das Vortrittsrecht in den Begegnungszonen geregelt. Deren Premiere gründet in einem Versuchsbetrieb in Burgdorf, wo 1995 die «Flanierzone» getestet wurde. Das Konzept funktionierte gut und wurde 2002 als «Begegnungszone» in die Signalisationsverordnung überführt.
In der Begegnungszone gilt 20 km/h als maximale Geschwindigkeit. Auch ebenda sieht das Gesetz keine Fussgängerstreifen vor; dennoch haben Fussgängerinnen und Fussgänger Vortritt vor allen Fahrzeugen, betont Michael Rytz: «Die Verordnung verlangt, dass Begegnungszonen deutlich erkennbar sind.» Oft ist zusätzlich zum Strassenschild ein gut sichtbares «20» auf die Strasse gemalt. Häufig hat die Einfahrt einen Tor-Charakter. Weitere Gestaltungselemente weisen darauf hin, dass gemächliches Fahren angezeigt ist. «Häufig stellt man überdies bei der Fahrt durch einen solchen Abschnitt ganz automatisch fest, dass hier das Leben und nicht der Verkehr Vorrang hat. Da entdeckt man hier einen Ping-Pong-Tisch oder ein Dreirad und dort einen Grill oder ein Hockeytor.»
Gedacht ist das Limit von 20 km/h natürlich in erster Linie für motorisierte Fahrzeuge. Indes schaffen sportliche Radfahrerinnen und Radfahrer selbst ohne Motor locker ein höheres Tempo. Sie riskieren in der Begegnungszone ebenfalls, gebüsst zu werden.
Velostrassen ohne Sonderrechte für Velos
Neueren Datums ist das Konzept der Velostrasse, welches auf mehreren nationalen Pilotversuchen basiert. Die Berner Behörden bezeichneten die Strecken bei deren Einführung 2016 als «Velo-Komfortrouten, auf denen auch das Nebeneinanderfahren möglich ist.» Der Bund ermöglicht Velostrassen seit 2020. Michael Rytz: «Velostrassen sollen gute Fahrradverbindungen in Tempo-30-Zonen ermöglichen. Sie werden vor allem in Städten immer häufiger eingerichtet.»
Allerdings sind Velostrassen – anders als deren Bezeichnung vermuten lässt – nicht ausschliesslich für Radfahrerinnen und Radfahrer reserviert. Neben ihnen teilen sich auch alle anderen Verkehrsteilnehmenden den Platz – selbst Parkplätze müssen nicht weichen, wenn eine Velostrasse eingerichtet wird.
Der Hauptunterschied zur normalen Strasse: Der Rechtsvortritt an Einmündungen ist konsequent aufgehoben. «Radfahrenden steht so eine sichere und unterbruchsfreie Verbindung zur Verfügung», sagt Rytz. Der Vortrittsentzug wird an Einmündungen mittels Signal und Haifischzähnen angezeigt; die Velostrasse wird durch grosse Velopiktogramme verdeutlicht.
Sperrzone Schulstrasse
Während die Velostrasse auf einem niederländischen Verkehrskonzept gründet, hat die Schulstrasse ihren Ursprung in Italien. 1989 entstand die erste Schulstrasse in Bozen. VCS-Schulwegexpertin Alice Gentile erklärt: «Schulstrassen werden in Quartieren mit Schulhäusern eingerichtet. Die Schulstrasse ist grundsätzlich befahrbar, wird aber morgens, mittags und nachmittags für den Autoverkehr gesperrt.» Also dann, wenn Schülerinnen und Schüler eintreffen oder nach Hause gehen. Das temporäre Fahrverbot kann auf einer Signalisation angezeigt oder durch einen versenkbaren Poller verdeutlicht werden.
Viele Verkehrskonzepte, welche wir in der Schweiz kennen, wurden meist bereits länger zuvor im Ausland installiert.
Gentile ist überzeugt vom Konzept der Schulstrasse: «Sie bietet ein sehr hohes Sicherheitsniveau in unmittelbarer Nähe der Schule, wo sich die meisten Kinder aufhalten. Das ist auch ein Pluspunkt für besorgte Eltern.» Für die Schülerinnen und Schüler wird es mit der Schulstrasse noch attraktiver, ihren Weg zur Schule zu Fuss oder mit dem Velo zurückzulegen. Ausserdem hat sich bestätigt, dass die Sperrung zu den neuralgischen Zeitpunkten einen positiven Nebeneffekt hat: «Es gibt weniger Elterntaxis und damit weniger gefährliche Manöver und unübersichtliche Situationen.» Aufgrund der besseren Verkehrssicherheit und weil die tägliche Sperrung der Schulstrasse bloss während kurzer Zeit gilt, sei überdies die Akzeptanz des Konzepts bemerkenswert gross.
Nachahmen erwünscht
Viele Verkehrskonzepte, welche wir in der Schweiz kennen, wurden meist bereits länger zuvor im Ausland installiert. Pioniere für die bekanntesten Beispiele waren Deutschland, Belgien und die Niederlande. Abkupfern ist also ausdrücklich erlaubt. Auch in Bereichen, welche nicht vor allem dem Aspekt der Verkehrssicherheit dienen.
Eine interessante Idee wären etwa die Umweltzonen, welche Stockholm seit 1996 kennt. In Umweltzonen sind Fahrzeuge mit hohem Schadstoffausstoss (z.B. Stickoxide oder Feinstaub) nur beschränkt erlaubt oder ganz verboten. Die Idee wurde von Berlin, Hannover und Köln übernommen – auch Milano und Bologna führten die Sperrzone für Dreckschleudern früh ein.
In der Schweiz sind Umweltzonen derweil nur punktuell ein Thema: Genf hat 2020 eine Einschränkung eingeführt, gemäss der das Zentrum nur noch mit einer speziellen Umweltplakette – dem «Stick’AIR» – befahren werden darf, sobald die Luftverschmutzung einen bestimmten Schwellenwert überschreitet. Eine permanent gültige Umweltzone ist zurzeit in Basel im Gespräch. Das Projekt ist allerdings bislang nicht spruchreif – dem Vernehmen nach wartet man auf das Okay aus Bern.
Umweltzonen haben freilich den Nachteil, dass sie nur begrenzt und sehr lokal Wirkung entfalten, dort aber die Luftqualität merklich verbessern. Ungleich wichtiger ist indes der indirekte Effekt, wenn statt eines neuen SUV emissionsärmere Fahrzeuge oder Elektroautos gekauft werden – oder im Idealfall gleich auf den öffe tlichen Verkehr oder das Velo umgestiegen wird.
Andreas Käsermann