(Un-)klare Regeln

29. August 2024 | VCS-Mag­a­zin

© Andreas Käser­mann

Tem­po-30- und Begeg­nungszo­nen, Velo- und Schul­strassen: In verkehrs­beruhigten Zonen herrscht gle­ich­sam eine baby­lonis­che Sprachver­wirrung. Auch die jew­eils gel­tenden Verkehrsregeln sind mitunter nicht allen klar. Das VCS-Mag­a­zin sagt, was gilt.

aus VCS-Mag­a­zin 3/2024

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Ger­ade 35 Jahre ist es her, als der Bun­desrat die Grund­lage geschaf­fen hat, um in Wohn­quartieren Tem­po-30-Zonen einzuricht­en. Das war der eigentliche Startschuss zur Verkehrs­beruhi­gung. 1990 ent­stand dann in Win­terthur die erste Tem­po-30-Zone. Viele weit­ere im ganzen Land fol­gten. Mit­tler­weile gibt es in der Stadt Zürich rund 370 Kilo­me­ter Strassen in Tem­po-30-Zonen. Die Entwick­lung wird auch angekurbelt durch Vere­in­fachun­gen: 2023 ist die Gutacht­enpflicht ent­fall­en, welche zuvor lang­wierige Bewil­li­gung­sprozesse verur­sachte.

30 ist das neue 50

 Unter­dessen wohnen rund 40 Prozent der Schweiz­er Bevölkerung an ein­er Tem­po-30-Zone und geniessen deren Vorzüge. Nie­mand möchte zum alten Tem­poregime zurück.

«Wohn­quartiere sind lebenswert­er gewor­den », blickt VCS-Verkehrssicher­heit­sex­perte Michael Rytz zurück. «Mit 30 km/h wird der Verkehrslärm gegenüber Tem­po 50 hal­biert. Schulkinder, Velo­fahrerin­nen und Fuss­gänger fühlen sich sicher­er.» Tat­säch­lich sinkt die Zahl der schw­eren Unfälle nach Ein­führung von Tem­po 30 um ein gutes Drit­tel.

An Ein­mün­dun­gen und Kreuzun­gen gilt in Tem­po-30-Zonen Rechtsvor­tritt – sofern keine andere Regelung sig­nal­isiert ist. Ausser­dem haben Fahrzeuge – mit der gebote­nen Vor­sicht – auch dann Vor­tritt, wenn die achtjährige Lena zur Schul­fre­undin auf die gegenüber­liegende Strassen­seite wech­selt oder Rent­ner Bieri im Bio­laden vis-à-vis einkaufen gehen will. Fuss­gänger­streifen, welche ihnen Vor­tritt gewähren wür­den, sind prak­tisch nicht exis­tent.

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Solche sind näm­lich in der «Verord­nung über die Tem­po-30-Zonen» expliz­it aus­bedun­gen: «Die Anord­nung von Fuss­gänger­streifen ist unzuläs­sig», ste­ht da geschrieben. Aus­nah­men sieht der Artikel allerd­ings vor: etwa bei Schulen und Alter­sheimen. Auch vor dem Bun­de­shaus in Bern ist ein Fuss­gänger­streifen aufge­malt – trotz Tem­po-30-Zone. Ein Schelm, wer Bös­es dabei denkt!

Wo es keinen Fuss­gänger­streifen gibt – in Tem­po-30-Zonen also fast über­all – haben Fahrzeuge Vor­tritt. Velos eben­so wie Autos, Last- und Liefer­wa­gen oder Motor­räder. Wird Fuss­gän­gerin­nen und Fuss­gängern Vor­tritt gewährt, ist das Good­will. «Dessen sind sich viele nicht bewusst. Das kann gele­gentlich auch auf eigentlich ruhi­gen Quartier­strassen zu heiklen Sit­u­a­tio­nen führen», sagt Verkehrssicher­heit­sex­perte Rytz.

Strasse als Begegnungsort

Anders ist das Vor­trittsrecht in den Begeg­nungszo­nen geregelt. Deren Pre­miere grün­det in einem Ver­suchs­be­trieb in Burgdorf, wo 1995 die «Flanier­zone» getestet wurde. Das Konzept funk­tion­ierte gut und wurde 2002 als «Begeg­nungszone» in die Sig­nal­i­sa­tionsverord­nung über­führt.

In der Begeg­nungszone gilt 20 km/h als max­i­male Geschwindigkeit. Auch eben­da sieht das Gesetz keine Fuss­gänger­streifen vor; den­noch haben Fuss­gän­gerin­nen und Fuss­gänger Vor­tritt vor allen Fahrzeu­gen, betont Michael Rytz: «Die Verord­nung ver­langt, dass Begeg­nungszo­nen deut­lich erkennbar sind.» Oft ist zusät­zlich zum Strassen­schild ein gut sicht­bares «20» auf die Strasse gemalt. Häu­fig hat die Ein­fahrt einen Tor-Charak­ter. Weit­ere Gestal­tungse­le­mente weisen darauf hin, dass gemäch­lich­es Fahren angezeigt ist. «Häu­fig stellt man überdies bei der Fahrt durch einen solchen Abschnitt ganz automa­tisch fest, dass hier das Leben und nicht der Verkehr Vor­rang hat. Da ent­deckt man hier einen Ping-Pong-Tisch oder ein Dreirad und dort einen Grill oder ein Hock­ey­tor.»

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Gedacht ist das Lim­it von 20 km/h natür­lich in erster Lin­ie für motorisierte Fahrzeuge. Indes schaf­fen sportliche Rad­fahrerin­nen und Rad­fahrer selb­st ohne Motor lock­er ein höheres Tem­po. Sie riskieren in der Begeg­nungszone eben­falls, gebüsst zu wer­den.

Velostrassen ohne Sonderrechte für Velos

Neueren Datums ist das Konzept der Velostrasse, welch­es auf mehreren nationalen Pilotver­suchen basiert. Die Bern­er Behör­den beze­ich­neten die Streck­en bei deren Ein­führung 2016 als «Velo-Kom­fortrouten, auf denen auch das Nebeneinan­der­fahren möglich ist.» Der Bund ermöglicht Velostrassen seit 2020. Michael Rytz: «Velostrassen sollen gute Fahrrad­verbindun­gen in Tem­po-30-Zonen ermöglichen. Sie wer­den vor allem in Städten immer häu­figer ein­gerichtet.»

Allerd­ings sind Velostrassen – anders als deren Beze­ich­nung ver­muten lässt – nicht auss­chliesslich für Rad­fahrerin­nen und Rad­fahrer reserviert. Neben ihnen teilen sich auch alle anderen Verkehrsteil­nehmenden den Platz – selb­st Park­plätze müssen nicht weichen, wenn eine Velostrasse ein­gerichtet wird.

Der Haup­tun­ter­schied zur nor­malen Strasse: Der Rechtsvor­tritt an Ein­mün­dun­gen ist kon­se­quent aufge­hoben. «Rad­fahren­den ste­ht so eine sichere und unter­bruchs­freie Verbindung zur Ver­fü­gung», sagt Rytz. Der Vor­trittsentzug wird an Ein­mün­dun­gen mit­tels Sig­nal und Haifis­chzäh­nen angezeigt; die Velostrasse wird durch grosse Velopik­togramme verdeut­licht.

Sperrzone Schulstrasse

Während die Velostrasse auf einem nieder­ländis­chen Verkehrskonzept grün­det, hat die Schul­strasse ihren Ursprung in Ital­ien. 1989 ent­stand die erste Schul­strasse in Bozen. VCS-Schul­weg­ex­per­tin Alice Gen­tile erk­lärt: «Schul­strassen wer­den in Quartieren mit Schul­häusern ein­gerichtet. Die Schul­strasse ist grund­sät­zlich befahrbar, wird aber mor­gens, mit­tags und nach­mit­tags für den Autoverkehr ges­per­rt.» Also dann, wenn Schü­lerin­nen und Schüler ein­tr­e­f­fen oder nach Hause gehen. Das tem­poräre Fahrver­bot kann auf ein­er Sig­nal­i­sa­tion angezeigt oder durch einen versenkbaren Poller verdeut­licht wer­den.

Viele Verkehrskonzepte, welche wir in der Schweiz ken­nen, wur­den meist bere­its länger zuvor im Aus­land instal­liert.

Gen­tile ist überzeugt vom Konzept der Schul­strasse: «Sie bietet ein sehr hohes Sicher­heit­sniveau in unmit­tel­bar­er Nähe der Schule, wo sich die meis­ten Kinder aufhal­ten. Das ist auch ein Plus­punkt für besorgte Eltern.» Für die Schü­lerin­nen und Schüler wird es mit der Schul­strasse noch attrak­tiv­er, ihren Weg zur Schule zu Fuss oder mit dem Velo zurück­zule­gen. Ausser­dem hat sich bestätigt, dass die Sper­rung zu den neu­ral­gis­chen Zeit­punk­ten einen pos­i­tiv­en Neben­ef­fekt hat: «Es gibt weniger Eltern­taxis und damit weniger gefährliche Manöver und unüber­sichtliche Sit­u­a­tio­nen.» Auf­grund der besseren Verkehrssicher­heit und weil die tägliche Sper­rung der Schul­strasse bloss während kurz­er Zeit gilt, sei überdies die Akzep­tanz des Konzepts bemerkenswert gross.

Nachahmen erwünscht

Viele Verkehrskonzepte, welche wir in der Schweiz ken­nen, wur­den meist bere­its länger zuvor im Aus­land instal­liert. Pio­niere für die bekan­ntesten Beispiele waren Deutsch­land, Bel­gien und die Nieder­lande. Abkupfern ist also aus­drück­lich erlaubt. Auch in Bere­ichen, welche nicht vor allem dem Aspekt der Verkehrssicher­heit dienen.

Eine inter­es­sante Idee wären etwa die Umwelt­zo­nen, welche Stock­holm seit 1996 ken­nt. In Umwelt­zo­nen sind Fahrzeuge mit hohem Schad­stof­fausstoss (z.B. Stick­ox­ide oder Fein­staub) nur beschränkt erlaubt oder ganz ver­boten. Die Idee wurde von Berlin, Han­nover und Köln über­nom­men – auch Milano und Bologna führten die Sper­rzone für Dreckschleud­ern früh ein.

In der Schweiz sind Umwelt­zo­nen der­weil nur punk­tuell ein The­ma: Genf hat 2020 eine Ein­schränkung einge­führt, gemäss der das Zen­trum nur noch mit ein­er speziellen Umwelt­plakette – dem «Stick’AIR» – befahren wer­den darf, sobald die Luftver­schmutzung einen bes­timmten Schwellen­wert über­schre­it­et. Eine per­ma­nent gültige Umwelt­zone ist zurzeit in Basel im Gespräch. Das Pro­jekt ist allerd­ings bis­lang nicht spruchreif – dem Vernehmen nach wartet man auf das Okay aus Bern.

Umwelt­zo­nen haben freilich den Nachteil, dass sie nur begren­zt und sehr lokal Wirkung ent­fal­ten, dort aber die Luftqual­ität merk­lich verbessern. Ungle­ich wichtiger ist indes der indi­rek­te Effekt, wenn statt eines neuen SUV emis­sion­särmere Fahrzeuge oder Elek­troau­tos gekauft wer­den – oder im Ide­al­fall gle­ich auf den öffe tlichen Verkehr oder das Velo umgestiegen wird.

 

Andreas Käser­mann