
Hauptsache, die Musik ist gut
«Elektro» ist Musik in den Ohren von Andreas Ryser. Das «Länggassblatt» hat die graue Eminenz der Schweizer Elektroszene und Inhaber eines eigenen Plattenlabels getroffen.
Im «Sattler» haben wir abgemacht. Um 10 Uhr morgens. Für einen Musiker wohl eher eine Unzeit, denke ich mir und stelle mich auf mindestens eine Viertelstunde Verspätung ein. So kann man irren: Fast sekundengenau kurvt einer im T‑Shirt, mit Umhängetasche und Baseball-Käppi auf einem drolligen Klappvelo um die Ecke. «Das ist das beste Gefährt, das ich je besass», sagt Andreas Ryser, Labelbesitzer und – wie sich später zeigt – Lobbyist auf musikalischer Mission. «Wenn ich in Zürich zwei, drei Meetings habe, nehme ich mein Klapprad in den Zug und spare mir locker mal eine Stunde Tramfahrten.» Das gute Stück lässt sich zusammenklappen und ist dann kaum grösser als eine Laptoptasche. «Passt perfekt unter den Sitz in der Bahn», lacht der 44jährige und vollzieht eine Demonstration der Vorzüge des Vehikels.
Vom Velokrurier zum Labelchef
Seit nunmehr fünf Jahren wohnt Andreas Ryser in der Länggasse. Zusammen mit der Partnerin und dem achtjährigen Sohn. Als Velokurier hat er früher tausende von Kilometern in der Region Bern abgespult. Das war aber nur die halbe Wahrheit, der halbe Ryser: denn bereits damals – anfangs der 2000er-Jahre – war der noch lieber mit Musik als im Lieferauftrag unterwegs. 2003 gründete er zusammen mit dem Berner Daniel Jakob das Duo Filewile, das es hernach national zu ansehnlicher Beachtung brachte und deren elektronisch generierten Klänge den Sprung in die Playlists der Neuheitensendung «Sounds!» von SRF 3 – damals noch DRS 3 – schafften.

Andreas Ryser erinnert sich gern an diese Zeit. «Unseren allerersten Auftritt hatten wir als Strassenmusiker vor dem Eingang der Sónar – einem Musikfestival in Barcelona.» Das Duo kam jedoch deutlich anders daher als die klassischen Busker: «Unser Equipment bestand aus zwei Apple PowerBooks und einem batteriebetriebenen Soundsystem.» Die Band veröffentlichte in der Folge jeden Monat einen Elektro-Track, der allerdings nicht käuflich zu erwerben war: «Anfangs haben wir unsere Tracks gratis via Internet als Download angeboten. Dieses Konzept war neu und auffällig.» Ein ebensolcher Gratisdownload schaffte es denn auch mit dem zugehörigen Videoclip in die Rotation des damaligen Musikkanals Viva Swizz – und ins nationale Radioprogramm.
Konventionen sind vielleicht nicht so ganz Rysers Ding, denkt sich einer, der dem Mann mit Käppi gegenübersitzt. Trotzdem: «Vieles ist blosses Verkaufen», sagt er. «Es genügt nicht, eine Handvoll guter Songs zu haben. Du musst auch lernen, sie zu verpacken und unter die Leute zu bringen.» Das gelang offenbar nicht schlecht: Filewile steuerte Soundtracks zu mehreren Filmen bei und lieferte Lunik ebenso wie Steff La Cheffe, King Pepe oder den Ganglords Remixes derer Songs. Zum Quartett gewachsen — mit Sängerin und Bassist ergänzt – tingelten die Elektro-Tüftler quer durch Europa, Afrika und Südamerika.
Die Musik spielt weltweit
Unterwegs als Musiker habe er viel über das Geschäft gelernt, sagt Andreas Ryser und blickt einen Moment lang gedankenverloren in die Kaffeetasse vor ihm. Wissen, das ihm jetzt zu Gute kommt; nun da er selber hauptberuflich Teil ebendieses Geschäfts ist. «Mouthwatering Records» nennt er sein eigenes Plattenlabel in Anlehnung an die Anfangszeiten, als er im Dachstock der Reithalle an den Mouthwatering Events für elektronische Klänge sorgte. Heute arbeitet er in einem Gemeinschaftsbüro nahe dem Inselspital. Rund 20 Künstler hat er unter Vertrag – alle aus dem Bereich der elektronischen Musik. Gegen 60 Alben hat er mit ihnen veröffentlicht. Mutig, angesichts des kleinen potenziellen Markts hierzulande. «National kann man kaum agieren», meint er. «Um erfolgreich zu sein, braucht es die internationalen Märkte.» In der Schweiz setze man zu wenig ab, um die Kosten einer Produktion einzuspielen.
Fraglos sind die elektronisch erzeugten Beats beileibe nicht jedermanns Sache. Die einen sind regelrecht entzückt, andere apostrophieren die digitalen Klänge als Lärm – weitere als langweilig. Das kümmert Ryser wenig: «Ich mag jede Art von Musik. Hauptsache, sie ist gut.» Okay; das ist bestechend einfach. Es gäbe sie natürlich schon, die Künstler, die nicht in sein Portfolio passen. «Ich erhalte nicht selten Demoaufnahmen von neuen Interpreten, die sich offenbar nicht die geringsten Gedanken machen, ob ein Label für sie geeignet ist oder nicht. Die suchen verbissen nach einem Verleger – egal ob es passt.» Und dann höre er halt trotzdem hin und vergeude seine Zeit, statt sie für jene aufzuwänden, denen er auch etwas bieten könne. «Über derlei kann ich mich ganz übel ärgern.»

Ständig auf Achse
Denn: Zeit ist Geld. Auch in diesem Geschäft – und erst jetzt verstehe ich die nicht sofort ersichtliche Notwendigkeit eines Klappvelos im Zug. Verliert Ryser zwischen zwei Sitzungen mit dem blossen Transfer eine Stunde, dann nützt dies niemandem. Am wenigsten den Künstlern: «Eigentlich bin ich nichts weiter als ein Marketingfuzzi», macht er auf Understatement. «Ich versuche die Perlen zu finden und gebe mein bestes, diesen Leuten eine Plattform und Publizität zu verschaffen.» Also ist der Labelbesitzer eigentlich ein Aussendienstler? «Sozusagen. Einer, mit möglichst guten Beziehungen in die Musikredaktionen der Radiostationen.».
Die hat er offenbar: Besonders die SRG-Sender leisten gemäss dem Mouthwatering-Chef Ryser hervorragende Arbeit. So hätte etwa SRF 3 unlängst das bisherige kleine Schweizer Szene-Fenster am Samstagabend für elektronische Musik freigeräumt und bringt nun gleich jeden Abend einheimische Kost aller Genre. «Da ist plötzlich viel mehr Sendeplatz für Schweizer Musik. Das ist eine tolle Entwicklung.» Ebenso rühmt Ryser die mittlerweile 40jährige SRF-Sendung «Sounds!» und die dritte SRG-Kette in der Romandie: «Couleur 3».
Unkonventioneller Lobbyist
Dass einheimisches und elektronisches – am liebsten beides zusammen – seinen Platz hat, darauf hat Andreas Ryser mit anderem Hut hingearbeitet: Als Präsident des Schweizer Labelverbands «IndieSuisse». Dieser wurde vor knapp drei Jahren ins Leben gerufen und vertritt die unabhängigen Musiklabels und ‑produzenten der Schweiz. «Nur gemeinsam gelingt es, den Marktriesen Paroli zu bieten. Es braucht in den Bereichen Kulturpolitik, Förderung und Wirtschaft eine gute Zusammenarbeit. Sonst wird der Markt nur noch von den grossen Labels bestimmt». Diese «Major Labels» — wie sie in der Szene heissen — setzen praktisch ausschliesslich auf etablierte Namen, die für die kleinen Plattenfirmen nicht zu bewältigen wären. Nischenproduktionen können sich die Giganten gar nicht erst leisten – womit der Musikmarkt einige Takte ärmer wäre. Genau dort setzen die Indie-Labels aller Musiksparten an.
Wenn er von Musik spricht, kommt Andreas Ryser ins Schwärmen. Der Mann lebt, was er arbeitet. Jedoch hat das Musikgeschäft auch heute noch den Beigeschmack der Brotlosigkeit. «Ich benötige nicht viel Geld fürs Leben», sagt Ryser und schiebt die dem Kaffee beigelegte Schokolade in den Mund. Mit den immensen Chancen, via Internet weltweit agieren zu können, habe allerdings auch der Wettbewerb enorm zugenommen. «Man produziert heute mit jedem kommunen Computer bessere Qualität als noch vor 30 Jahren in einem unerschwinglich teuren Tonstudio.» Andreas Ryser nennt diesen Prozess die Demokratisierung der Musik. «Nehmen wir die Mittelstrasse und stellen uns an diesen paar hundert Metern zwischen Bierhübeli und Hallerladen 350 Bäckereien vor. Dann hat man das ungefähre Bild der heutigen Musikindustrie. Das überfordert nicht nur den Markt, sondern auch die Konsumenten.» Diese Entwicklung habe sich in den letzten Jahren verschärft.
Andreas Ryser erheischt einen Blick auf die Uhr und schiebt die leere Kaffeetasse beiseite. Er hat noch einen Termin: Am Mittag trifft er Parlamentarierinnen und Parlamentarier. Als Indiesuisse-Präsident ist für ihn ein gutes Polit-Netzwerk Gold wert. Er wird sich freilich umziehen müssen, denke ich. Das Käppi bleibt wohl zu Hause — aber recht sicher wird er auf seinem putzigen Klapprad zum Bundeshaus fahren.
Andreas Käsermann