Die Wegwerfgesellschaft

18. Juni 2020 | casanos­tra

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Von wegen «aus den Augen, aus dem Sinn»: Herr und Frau Durch­schnitts-Schweiz­er pro­duzieren Unmen­gen an Müll. Etwa 6 Mil­lio­nen Ton­nen Kehricht fall­en Jahr für Jahr allein in Schweiz­er Haushal­tun­gen an. Das sind fast 11,5 Ton­nen pro Minute. Zeit, umzu­denken.

aus casanos­tra 156

© Casafair Schweiz

Zwei sta­tis­tis­che Kur­ven ver­gle­ichen wir, die anscheinend nicht viel miteinan­der zu tun haben. Die Entwick­lung des Brut­toin­land­spro­duk­ts BIP und die Zunahme der Sied­lungsabfälle – bei­de seit 1990. Inter­es­sant: die Kur­ven ver­laufen prak­tisch gle­ich. Und bei­de Werte haben sich in diesen dreis­sig Jahren etwa veran­derthalb­facht. Als 2009 das BIP der Finanzkrise wegen einen Dämpfer ein­fuhr, ist auch die Menge der Sied­lungsabfälle kurzzeit­ig um densel­ben Fak­tor zurück­ge­gan­gen.

Je bess­er es uns also geht, umso mehr wer­fen wir weg. Mit jährlich 716 kg Abfall pro Per­son gere­icht es der Schweiz zu einem der höch­sten Sied­lungsab­fal­laufkom­men weltweit. Rund 53 Prozent davon wer­den immer­hin rezyk­liert – etwa dop­pelt so viel wie noch Ende der 1980er-Jahre.

Diese Steigerung sei unter anderem auf die Ein­führung der Sack­ge­bühr in den 1990er-Jahren zurück­zuführen, schreibt das Bun­de­samt für Umwelt Bafu. «Damit wurde ein finanzieller Anreiz für das Sep­a­rat­sam­meln geschaf­fen, und gle­ichzeit­ig wur­den mehr gut erre­ich­bare Sam­mel­stellen ein­gerichtet. » Das Bafu wertet dies als Erfolg, mah­nt jedoch: «Die erfreuliche Entwick­lung beim Recy­cling sollte nicht darüber hin­wegtäuschen, dass die energie- und ressourcenscho­nend­ste Lösung nach wie vor die Abfal­lver­mei­dung ist.»

Von kon­se­quenter Abfal­lver­mei­dung sind aber Herr und Frau Schweiz­er noch mehr als einen Tages­marsch ent­fer­nt. Denn: wenn 53 Prozent des Abfalls rezyk­liert wer­den, lan­den 47 Prozent in der Kehrichtver­bren­nung. Pro Kopf macht dies dann knapp 1 kg Abfall täglich, der unter dem Spül­beck­en zwis­chen­ge­lagert und ein- oder zweimal wöchentlich im ein­schlägi­gen Sack am Strassen­rand deponiert wird, um in der «ther­mis­chen Ver­w­er­tung» – so der Fach­jar­gon – wenig­stens noch Fer­n­wärme und Strom herzugeben.

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Zero Waste – Null Abfall als Ziel

Dieser Zus­tand ist freilich für viele nicht das Ende der Wahrheit. Eine wach­sende Zahl an «Zero-Wastern» ver­sucht, den selb­st verur­sacht­en Müll auf ein Min­i­mum zu reduzieren. Eine von ihnen ist Mar­ti­na Fis­chli: «In unserem Zwei-Per­so­n­en-Haushalt pro­duzieren wir aktuell etwa einen 17-Liter-Sack in zwei Monat­en. Vor rund vier Jahren waren es fast 35 Liter pro Woche.» Sie sei als lei­den­schaftliche Köchin auf den Geschmack gekom­men. Die Unmen­gen an Kun­st­stof­fver­pack­un­gen im Lebens­mit­tel­re­gal hät­ten sie zuse­hends gestört. «Das kon­nte so nicht weit­erge­hen. Da beschloss ich, in einem ersten Schritt möglichst keine Lebens­mit­tel mehr einzukaufen, die ver­packt sind.»

Die Philoso­phie der «Zero Waste»-Bewegung endet aber nicht am Mülleimer. Eben­so wichtig ist auch ein rück­sichtsvoller Umgang mit Ressourcen wie Wass­er, Strom oder Arbeit­szeit. Und die Zero-Waste-Bewe­gung will sen­si­bil­isieren. Denn Hand aufs Herz: Wer kann denn schon behaupten, in Sachen Abfallmin­imierung ein völ­lig reines Gewis­sen zu haben? Sich nicht hie und da selb­st bei einem Anflug von Ver­schwen­dung oder wenig­stens Unacht­samkeit ertappt zu haben?

Dabei sei ein Umstieg keineswegs eine Ein­schränkung, sagt Mar­ti­na Fis­chli. «Ich habe immer ein paar Stoff­säcke dabei, die sind leicht und brauchen wenig Platz. Damit kann ein Grossteil der Lebens­mit­tel wie zum Beispiel Früchte und Gemüse oder auch Getrei­de und Gebäcke eingekauft wer­den. Zudem kaufe ich sehr gerne in Hoflä­den und auf dem Markt ein, da gibt es eine riesige Auswahl an Pro­duk­ten ohne Ver­pack­ung.»

Darüber hin­aus gibt die Web­site von Zero Waste Switzer­land auch Super­markt-Kundin­nen und ‑Kun­den Ratschläge für den abfal­lar­men Einkauf. Da liegt neben Gemüse und Frücht­en auch Fleisch, Fisch und Käse im Offen­verkauf – dies hat meist auch den Vorteil, dass die Menge bess­er zu den geplanten Menues passt. Ver­packt wird in mit­ge­brachte Schalen. Auch Schoko­lade liegt dur­chaus drin – dann aber gerne Bruch­schoko­lade direkt vom Pro­duzen­ten oder jene, die in Kar­ton ver­packt ist. Und schliesslich: Wer sich über das ver­pack­te Bio­gemüse bei den Grossverteil­ern ärg­ert, find­et im Bio- oder Hofladen und am Mark­t­stand eine Alter­na­tive. «Es ist wie bei einem Hob­by, je öfter man es macht, desto ‹bess­er› wird man», sagt Zero-Wasterin Mar­ti­na Fis­chli. Es gebe aber dur­chaus Gren­zen: «Beim Sport komme ich teil­weise nicht darum herum, hin und wieder Kon­tak­tlin­sen zu ver­wen­den.»

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Wirtschaft umbauen – um Müll einzusparen

Noch ist die Bewe­gung hierzu­lande klein. Der Vere­in Zero Waste Switzer­land wurde vor fünf Jahren gegrün­det und zählt mit­tler­weile rund 1000 Mit­glieder, welche der Philoso­phie im All­t­ag nach­leben und daran erin­nern, dass der Abfall­berg auch mit anderen Mit­teln bekämpft wer­den muss. Im Ide­al­fall bere­its an der Quelle – denn der beste Abfall ist der, welch­er gar nie entste­ht.

Dafür braucht es auch ein Umdenken in der güter­pro­duzieren­den Wirtschaft. Deren primär­er Fokus auf Pro­duk­tiv­itätssteigerung und damit ver­bun­den­em erhöhtem Mate­ri­alver­brauch ist nicht das Konzept ein­er enkeltauglichen Zukun­ft, meint Esther Hid­ber, Pro­jek­tlei­t­erin Abfall und Ressourcen bei der Umwelt­s­tiftung Pusch: «Angesichts des gigan­tis­chen Ressourcenver­schleiss­es, der sich zus­pitzen­den Ressourcenknap­pheit und der Umweltzer­störung wird den Men­schen zunehmend klar, dass es so nicht weit­erge­hen kann. Die Alter­na­tive ist die kreis­lauf­fähige Wirtschaft.» Dieses Wirtschaftsmod­ell zielt darauf, ein Gut oder dessen Kom­po­nen­ten so lang wie möglich im Kreis­lauf zu hal­ten. Das fange schon beim Pro­duk­t­edesign an, wo man sich damit auseinan­der­set­zt, wie ein Pro­dukt, das aus­ge­di­ent hat, weit­er­ver­wen­det wer­den kann. Es soll etwa bess­er reparier­bar, Kom­po­nen­ten sollen bess­er aus­tauschbar oder fürs Recy­cling zer­leg­bar sein. Nach der Auf­bere­itung entste­ht im Kreis­lauf­mod­ell im Ide­al­fall der Grund­stoff für ein neues Exem­plar des­sel­ben Pro­duk­ts. «Wir ver­suchen derzeit, mit Part­nern in Pilot­pro­jek­ten aufzuzeigen, wie Matratzen oder Büromö­bel kreis­lauf­fähig pro­duziert wer­den kön­nten. Da wäre es sin­nvoll, man kön­nte sie nach Gebrauch in ihre Bestandteile zer­legen, diese nöti­gen­falls erneuern, reini­gen und wieder zurück in den Kreis­lauf führen, sprich daraus möglichst neue Matratzen oder Büro­mo­bil­iar her­stellen.»

Obwohl zahlre­iche Ini­tia­tiv­en ein Umdenken erre­ichen wollen, harzt es mitunter beim Willen, stellt Esther Hid­ber fest. In der Ver­ant­wor­tung ste­he ins­beson­dere auch die Poli­tik: «Es braucht Mut und Weit­blick, eine ver­meintlich gut funk­tion­ierende Wirtschaft zu trans­formieren. Doch Weit­sicht ist nicht jed­er­manns Sache. Dabei liegen die Chan­cen der Zukun­ft in der effizien­ten Nutzung unser­er Ressourcen, denn die wer­den immer knap­per.»

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Noch ist die Wergwerfgesellschaft nicht überwunden

Der Weg ist ein steiniger. Noch pro­duzieren wir Jahr für Jahr mehr Abfall. Und die unmit­tel­bare Auf­gabe ist, diesen wenig­stens fachgerecht zu sam­meln und soweit als möglich zu ver­w­erten. An diesem Punkt kom­men die Entsorgungsstellen der öffentlichen Hand ins Spiel. Und auch hier wer­den neue Konzepte gesucht und getestet. Vor knapp zwei Jahren hat die Stadt Bern einen All­t­ag­stest in rund 1300 Haushal­tun­gen lanciert. In Mietliegen­schaften eben­so wie in Eigen­tumssied­lun­gen. Casanos­tra hat sein­erzeit über den Test­start berichtet.

Sei­ther tren­nen die Test­per­so­n­en PET, Glas, Kun­st­stoff sowie Blech und Alu­mini­um in ver­schieden­far­bigen Plas­tik­säck­en direkt im Haushalt. Rüstabfälle und Speis­er­este lan­den im Grün­con­tain­er, der verbleibende Rest­müll im Kehricht­sack. Die bere­its getren­nten Wert­stoffe wer­den zusam­men mit losem Papi­er und Kar­ton in einem Recy­cling-Con­tain­er vor dem Haus deponiert und dort von der Abfuhr abge­holt. Die Kehricht­säcke wer­den in einem zweit­en Con­tain­er bere­it­gestellt.

Das Echo auf den Test­lauf sei mehrheitlich pos­i­tiv aus­ge­fall­en, sagt Chris­t­ian Jor­di, Leit­er Entsorgung + Recy­cling Bern: «Bei Umfra­gen stuften 88 Prozent der Befragten das Trennsys­tem als prak­tisch ein, 85 Prozent wür­den eine defin­i­tive Ein­führung nach dem Pro­belauf begrüssen.» Einzelne Test­per­so­n­en hät­ten eine Reduk­tion des zu ver­bren­nen­den Kehrichts um etwa die Hälfte erzielt. Auch die in Bern wieder einge­führte Kun­st­stoff­samm­lung im eige­nen Haushalt habe sich bewährt. Die Recy­clingquote sei im Test auch bei den anderen Wert­stof­fen gestiegen. Eben­falls pos­i­tiv: Das Abfuhrper­son­al hievt nicht mehr täglich mehrere Ton­nen einzelne Abfall­säcke in den Kehricht­wa­gen, son­dern leert die gefüll­ten Con­tain­er maschinell. Das ist mit Blick auf die Gesund­heit eine enorme Ent­las­tung. Auch die Ver­w­ert­er sind zufrieden: Die Ziele der Wert­stofftren­nung würde bisweilen gar übertrof­fen.

Eine wichtige Erken­nt­nis des Pilotver­suchs sei ausser­dem, dass die tech­nis­che Mach­barkeit nachgewiesen wer­den kon­nte. Auch hin­sichtlich Öko­bi­lanz ist der Pilot pos­i­tiv ver­laufen, sagt Chris­t­ian Jor­di: «Das Sys­tem ist bei genü­gen­der Teil­nehmerzahl ökol­o­gis­ch­er als das bish­erige.»

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Den­noch stand der Bern­er Abfal­lver­such auch in der Kri­tik. Es sei sinn­los, Abfall für die Entsorgung noch extra in Plas­tik­säcke zu ver­pack­en, wurde moniert. Chris­t­ian Jor­di rel­a­tiviert: Die Säcke seien nötig, um die Wert­stoffe im Sam­mel­con­tain­er zu tren­nen. «Unsere Farb- und Kehricht­säcke weisen einen hohen Anteil an wiederver­w­ertetem Kun­st­stoff auf. Entsprechend wird wenig Neukun­st­stoff einge­set­zt und benutzte Säcke wer­den grössten­teils dem Recy­cling zuge­führt.» Auch Bedenken, dass die Stro­mund Fer­n­wärmegewin­nung ob zu wenig brennbarem Kehricht lei­den kön­nte, kann Jor­di entkräften – selb­st wenn das Sys­tem dere­inst flächen­deck­end einge­führt wer­den sollte: «Die Menge und der Bren­nwert wer­den mit zunehmender Anzahl Beteiligter am Trennsys­tem natür­lich sinken. Die Energiezen­trale Forsthaus Bern erlangt dadurch aber gle­ichzeit­ig mehr Ver­bren­nungska­paz­ität, welche sie durch zusät­zlichen Gewerbe- und Indus­triekehricht kom­pen­sieren kann.»

Die Stadt­bern­er Regierung hat Entsorgung + Recy­cling Bern kür­zlich grünes Licht für eine Weit­er­führung des schweizweit noch einzi­gar­ti­gen Trennsys­tems gegeben. Nun fol­gt die öffentliche Vernehm­las­sung zum Konzept. Der Leit­er der Bern­er Entsorgungs­be­triebe rech­net mit ein­er gross­flächi­gen Ein­führung bis unge­fähr 2026.

 

Die Rezepte zur Bewäl­ti­gung des Abfall­bergs gehen das Prob­lem von unter­schiedlichen Seit­en an: Den akut vorhan­de­nen Müll wis­sen wir kor­rekt zu beseit­i­gen – wir kön­nen die Brennen­ergie gar als Strom und Wärme nutzen. Gle­ich­wohl wird ein Umdenken nötig sein. Denn die Spitze der Abfall­pro­duk­tion – der soge­nan­nte «Peak Waste» – wird in den OECD-Län­dern im Jahr 2050, glob­al sog­ar erst im kom­menden Jahrhun­dert erwartet.

Der Müll­berg ist gle­ich­sam ein Spiegel unseres Wohl­stands. Rund 60 Ton­nen Sied­lungsab­fall pro­duzieren wir in einem Men­schen­leben. Würde die gesamte Welt im sel­ben Aus­mass wie die Schweiz kon­sum­ieren, wären fast drei Plan­eten erforder­lich. Der «Earth Over­shoot Day» ist der Tag, an dem die Ressourcennach­frage eines Lan­des die ihm zugemessene Erd­ka­paz­ität über­steigt. Die Schweiz hat­te ihre Jahres­res­sourcen bis zum 8. Mai bezo­gen. Für den Rest des Jahres leben wir auf Pump. Das sollte uns wohl zu denken geben.

Andreas Käser­mann