Die Tempo-30-Debatte
Unfallzahlen belegen, dass verkehrsberuhigte Strassen und Tempo-30-Zonen ein Mittel sind, um die Verkehrssicherheit zu verbessern. Ausserdem bedeutet Tempo 30 weniger Lärm. Das ist der Gesundheit zuträglich und steigert die Lebensqualität. Die Gegenseite argumentiert überraschend mit der Ausbremsung des ÖVs. Die Tempo-30-Debatte nimmt kein Ende.
Die Diskussion ist nicht neu: Bereits 1989 hat der Bundesrat die Grundlage geschaffen, um in Wohnquartieren Tempo-30-Zonen einzurichten. Im Jahr 2001 war dies dann das Sujet der Eidgenössischen Volksinitiative «Strassen für alle». Seither ist viel Zeit ins Land gezogen; Tempo 30 ist in den urbanen Quartieren immer häufiger die Standardgeschwindigkeit. Jüngst hat sich die Stadt Zürich einen neuen Richtplan zugelegt. Auf kommunalen Strassen legt dieser grundsätzlich Tempo 30 fest. Überdies beabsichtigt die Stadt, auch überkommunale Strassen auf das tiefere Limit zu beschränken.
Tempo 30: Eine Lösung für die Gesundheit?
Die Finnen machen es vor: Helsinki hat mit Tempo 30 vor zwei Jahren die «Vision Zero» erreicht. 2019 gab es null getötete FussgängerInnen, VelofahrerInnen und Kinder zu beklagen. Die Erklärung hänge mit den Anhaltewegen zusammen. Diese werden kürzer und ein Fahrzeug steht still, bevor Schlimmeres passiert. Auch Fachleute aus dem Gesundheitswesen beschäftigen sich mit dem Thema – sie warnen vor der Lärmbelastung auf stark und schnell befahrenen Strassen.
Tagsüber regelmässig dem Strassenverkehrslärm ausgesetzte Personen leiden unter Konzentrations- und Gedächtnisstörungen sowie generell unter Leistungsabfall. Nachts stören die Lärmbelästigungen den Schlaf. Lärmbetroffene sind häufig müde, gestresst und reizbar. Dazu kommen mögliche Herzprobleme, hoher Blutdruck oder Diabetes. In der Schweiz werden rund 500 frühzeitige Todesfälle pro Jahr der Lärmbelastung zugeschrieben. Durch die Temporeduktion von 50 auf 30 km/h nimmt der Strassenlärm um drei Dezibel ab, dies entspricht in der Wahrnehmung einer Halbierung des Lärms im Vergleich zu Tempo 50. Das Bundesgericht erinnert daran, den Gesundheitsschutz hinreichend zu berücksichtigen. So sei die Einführung von Tempo 30 eine wirksame Massnahme zur Bekämpfung von Strassenlärm sowie auch wirtschaftlich tragbar.
Zur Verhinderung von Negativspiralen
Aktuell steckt die Schweiz gleichsam noch in einer Zwischenphase: Auf Verkehrsachsen und Einfallstrassen gilt meist Tempo 50, währenddessen ist in städtischen Quartieren häufig 30 das Limit. Diese Differenzen führen zu einem sozialen Gefälle, welches auch gesellschaftspolitisch Zündstoff birgt: Die am besten vor Lärm geschützten Quartiere sind gemäss Erhebungen des Bundesamts für Umwelt (BAFU) auch die wohlhabendsten.
Wo also das Tempo gesenkt wird, steigen mit der Lebensqualität auch die Liegenschaftspreise und Mieten. Wer sich dies nicht leisten kann, ist nahezu gezwungen, an lärmigen Lagen zu wohnen. Durch diese Dynamiken werden Negativspiralen angeworfen. Die generelle Einführung von Tempo 30 kann eine Möglichkeit bieten, diesen Trend zu durchbrechen.
Wo das Tempo gesenkt wird, steigen mit der Lebensqualität auch die Liegenschaftspreise und Mieten.
Initiative gegen Tempo 30
Doch die Gegenwehr ist laut: Im Fahrwasser der Richtplanabstimmung in Zürich wurde flugs und gut vernehmbar eine kantonale Initiative gegen Tempo 30 beschlossen. Deren AbsenderInnen nehmen den öffentlichen Verkehr als Argument und fordern, dass dieser nicht durch Tempolimits behindert werden soll. Wohlweislich freilich, dass dann auch der motorisierte Individualverkehr kaum ausgebremst werden würde. Unabhängig davon wurde im Dezember 2020 ein neuer Richtplan der Stadt Zürich veröffentlicht. Im neuen Richtplan ist Tempo 30 nicht flächendeckend vorgesehen.
Sollte die Initiative erfolgreich sein, würden die Städte in ihren Absichten zur Temporeduktion empfindlich eingeschränkt. Die damit einhergehende Signalwirkung hätte das Zeug, die Tempo-30-Debatte auch ausserhalb des Kantons Zürich zu ersticken. Der umgekehrte Trend ist aber ebenso möglich.
Das bezeugt die Vergangenheit: Ab 1980 wurde versuchsweise Tempo 50 in ausgewählten Gemeinden eingeführt. Zu den Pionieren zählte auch die Stadt Zürich, welche von innerorts 60 auf «Generell 50» wechselte. Dies war ein Leuchtturm: Ab 1984 galt schweizweit im Siedlungsgebiet «Generell 50». Es folgten – durchaus auch im Anblick des seinerzeit serbelnden Waldbestands – weitere Geschwindigkeitsreduktionen: So senkte der Bundesrat das Tempolimit auf 120 km/h auf Autobahnen und 80 km/h ausserorts. Zwar stimmte die zeitgleich aufstrebende Autopartei darob in den Abgesang wüster Lieder ein und verunglimpfte die Beschränkungen als «Tempo Waldsterben» – der prophezeite Untergang der Wirtschaft und der Freiheit indes ist nicht eingetreten.
Modell national und international auf der Agenda
Entsprechend vorsichtig geht in der jüngsten Tempo-30-Diskussion auch der Bundesrat vor: Statt das potenziell umstrittene Schlagwort «Tempo 30» zu verwenden, plant die Landesregierung in ihrer Auslegeordnung zur Verkehrsplanung in den Städten «ein Zonenmodel zur Förderung der Koexistenz aller Fahrzeuge mit Priorisierung des rollenden Langsamverkehrs.» Regelungen sollen sich also künftig stärker am Fuss- und Veloverkehr orientieren. Dies würde wieder die Thematik Tempo 30 widerspiegeln.
Alleine auf weiter Flur ist der Bundesrat mit seinen Absichten nicht: Letzten Herbst hat das EU-Parlament mit grosser Mehrheit unter anderem eine Geschwindigkeitsbegrenzung auf Tempo 30 in Wohngebieten und Orten «mit hohem Rad- und Fussgängerverkehr» beschlossen. Das ist ein erster Schritt. Allerdings ist der Weg noch ein steiniger, denn das Ziel ist nicht bindend und bedarf überdies noch der Zustimmung der EU-Mitgliedsländer.
Andreas Käsermann