Andreas Käser­mann

Die Tempo-30-Debatte

Unfal­lzahlen bele­gen, dass verkehrs­beruhigte Strassen und Tem­po-30-Zonen ein Mit­tel sind, um die Verkehrssicher­heit zu verbessern. Ausser­dem bedeutet Tem­po 30 weniger Lärm. Das ist der Gesund­heit zuträglich und steigert die Leben­squal­ität. Die Gegen­seite argu­men­tiert über­raschend mit der Aus­brem­sung des ÖVs. Die Tem­po-30-Debat­te nimmt kein Ende.

Die Diskus­sion ist nicht neu: Bere­its 1989 hat der Bun­desrat die Grund­lage geschaf­fen, um in Wohn­quartieren Tem­po-30-Zonen einzuricht­en. Im Jahr 2001 war dies dann das Sujet der Eid­genös­sis­chen Volksini­tia­tive «Strassen für alle». Sei­ther ist viel Zeit ins Land gezo­gen; Tem­po 30 ist in den urba­nen Quartieren immer häu­figer die Stan­dard­geschwindigkeit. Jüngst hat sich die Stadt Zürich einen neuen Richt­plan zugelegt. Auf kom­mu­nalen Strassen legt dieser grund­sät­zlich Tem­po 30 fest. Überdies beab­sichtigt die Stadt, auch überkom­mu­nale Strassen auf das tief­ere Lim­it zu beschränken.

Tempo 30: Eine Lösung für die Gesundheit?

Die Finnen machen es vor: Helsin­ki hat mit Tem­po 30 vor zwei Jahren die «Vision Zero» erre­icht. 2019 gab es null getötete Fuss­gän­gerIn­nen, Velo­fahrerIn­nen und Kinder zu bekla­gen. Die Erk­lärung hänge mit den Anhal­tewe­gen zusam­men. Diese wer­den kürz­er und ein Fahrzeug ste­ht still, bevor Schlim­meres passiert. Auch Fach­leute aus dem Gesund­heitswe­sen beschäfti­gen sich mit dem The­ma – sie war­nen vor der Lärm­be­las­tung auf stark und schnell befahre­nen Strassen.

Mar­tin Jäger/pixelio.de

Tagsüber regelmäs­sig dem Strassen­verkehrslärm aus­ge­set­zte Per­so­n­en lei­den unter Konzen­tra­tions- und Gedächt­nis­störun­gen sowie generell unter Leis­tungsab­fall. Nachts stören die Lärm­beläs­ti­gun­gen den Schlaf. Lärm­be­trof­fene sind häu­fig müde, gestresst und reizbar. Dazu kom­men mögliche Herzprob­leme, hoher Blut­druck oder Dia­betes. In der Schweiz wer­den rund 500 frühzeit­ige Todes­fälle pro Jahr der Lärm­be­las­tung zugeschrieben. Durch die Tem­pore­duk­tion von 50 auf 30 km/h nimmt der Strassen­lärm um drei Dez­i­bel ab, dies entspricht in der Wahrnehmung ein­er Hal­bierung des Lärms im Ver­gle­ich zu Tem­po 50. Das Bun­des­gericht erin­nert daran, den Gesund­heitss­chutz hin­re­ichend zu berück­sichti­gen. So sei die Ein­führung von Tem­po 30 eine wirk­same Mass­nahme zur Bekämp­fung von Strassen­lärm sowie auch wirtschaftlich trag­bar.

Zur Verhinderung von Negativspiralen

Aktuell steckt die Schweiz gle­ich­sam noch in ein­er Zwis­chen­phase: Auf Verkehrsach­sen und Ein­fall­strassen gilt meist Tem­po 50, während­dessen ist in städtis­chen Quartieren häu­fig 30 das Lim­it. Diese Dif­feren­zen führen zu einem sozialen Gefälle, welch­es auch gesellschaft­spoli­tisch Zünd­stoff birgt: Die am besten vor Lärm geschützten Quartiere sind gemäss Erhe­bun­gen des Bun­de­samts für Umwelt (BAFU) auch die wohlhabend­sten.

Wo also das Tem­po gesenkt wird, steigen mit der Leben­squal­ität auch die Liegen­schaft­spreise und Mieten. Wer sich dies nicht leis­ten kann, ist nahezu gezwun­gen, an lär­mi­gen Lagen zu wohnen. Durch diese Dynamiken wer­den Neg­a­tivspi­ralen ange­wor­fen. Die generelle Ein­führung von Tem­po 30 kann eine Möglichkeit bieten, diesen Trend zu durch­brechen.

Wo das Tem­po gesenkt wird, steigen mit der Leben­squal­ität auch die Liegen­schaft­spreise und Mieten.

Initiative gegen Tempo 30

Doch die Gegen­wehr ist laut: Im Fahrwass­er der Richt­plan­ab­stim­mung in Zürich wurde flugs und gut vernehm­bar eine kan­tonale Ini­tia­tive gegen Tem­po 30 beschlossen. Deren AbsenderIn­nen nehmen den öffentlichen Verkehr als Argu­ment und fordern, dass dieser nicht durch Tem­polim­its behin­dert wer­den soll. Wohlweis­lich freilich, dass dann auch der motorisierte Indi­vid­u­alverkehr kaum aus­ge­bremst wer­den würde. Unab­hängig davon wurde im Dezem­ber 2020 ein neuer Richt­plan der Stadt Zürich veröf­fentlicht. Im neuen Richt­plan ist Tem­po 30 nicht flächen­deck­end vorge­se­hen.

Sollte die Ini­tia­tive erfol­gre­ich sein, wür­den die Städte in ihren Absicht­en zur Tem­pore­duk­tion empfind­lich eingeschränkt. Die damit ein­herge­hende Sig­nal­wirkung hätte das Zeug, die Tem­po-30-Debat­te auch ausser­halb des Kan­tons Zürich zu erstick­en. Der umgekehrte Trend ist aber eben­so möglich.

 

Das bezeugt die Ver­gan­gen­heit: Ab 1980 wurde ver­such­sweise Tem­po 50 in aus­gewählten Gemein­den einge­führt. Zu den Pio­nieren zählte auch die Stadt Zürich, welche von innerorts 60 auf «Generell 50» wech­selte. Dies war ein Leucht­turm: Ab 1984 galt schweizweit im Sied­lungs­ge­bi­et «Generell 50». Es fol­gten – dur­chaus auch im Anblick des sein­erzeit ser­bel­nden Waldbe­stands – weit­ere Geschwindigkeit­sre­duk­tio­nen: So senk­te der Bun­desrat das Tem­polim­it auf 120 km/h auf Auto­bah­nen und 80 km/h ausserorts. Zwar stimmte die zeit­gle­ich auf­strebende Autopartei darob in den Abge­sang wüster Lieder ein und verunglimpfte die Beschränkun­gen als «Tem­po Wald­ster­ben» – der prophezeite Unter­gang der Wirtschaft und der Frei­heit indes ist nicht einge­treten.

Modell national und international auf der Agenda

Entsprechend vor­sichtig geht in der jüng­sten Tem­po-30-Diskus­sion auch der Bun­desrat vor: Statt das poten­ziell umstrit­tene Schlag­wort «Tem­po 30» zu ver­wen­den, plant die Lan­desregierung in ihrer Ausle­ge­ord­nung zur Verkehrs­pla­nung in den Städten «ein Zonen­mod­el zur Förderung der Koex­is­tenz aller Fahrzeuge mit Pri­or­isierung des rol­len­den Langsamverkehrs.» Regelun­gen sollen sich also kün­ftig stärk­er am Fuss- und Veloverkehr ori­en­tieren. Dies würde wieder die The­matik Tem­po 30 wider­spiegeln.

Alleine auf weit­er Flur ist der Bun­desrat mit seinen Absicht­en nicht: Let­zten Herb­st hat das EU-Par­la­ment mit gross­er Mehrheit unter anderem eine Geschwindigkeits­be­gren­zung auf Tem­po 30 in Wohnge­bi­eten und Orten «mit hohem Rad- und Fuss­gängerverkehr» beschlossen. Das ist ein erster Schritt. Allerd­ings ist der Weg noch ein steiniger, denn das Ziel ist nicht bindend und bedarf überdies noch der Zus­tim­mung der EU-Mit­glied­slän­der.

Andreas Käser­mann