Die grosse Wut der Tessiner auf Bern
Die Volksseele im Tessin kocht! Der Kanton wird als Sonnenstube zwar allenthalben geschätzt. Doch ausserhalb der Saison und bei weniger guten Wetterprognosen foutiert sich ganz Helvetien um die gut 340 000 Ticinesi.
Fernab der Schalthebel in Bern und weitgehend allein gelassen, politisieren sie praktisch unbehelligt, sodass es manchmal zu und her geht wie weiland im gallischen Dorf. Immer mehr haben die Nase voll. Und zwar gestrichen voll. Gründe gibt es viele:
Der Gotthard-Strassentunnel muss wegen der anstehenden Sanierung geschlossen werden. Kommt die zweite Röhre wirklich vors Volk, droht das Tessin für Jahre abgeschottet zu werden.
Seit 15 Jahren wird den Tessinern ein Bundesratssitz verweigert. Kandidaturen kommen nicht einmal über die parteiinternen Ausmarchungen hinaus. Seit Flavio Cotti schafften es weder Fulvio Pelli, Patrizia Pesenti, Marina Carobbio noch Ignazio Cassis.
Mindestlöhne und Massnahmen gegen Lohndumping haben es schwer im Bundeshaus. Der Arbeitsmarkt im Tessin wäre aber dringend darauf angewiesen.
Neuester Coup: Der Bundesrat verzichtet auf eine Visite. Seine «Tour de Schiss» macht einen Bogen um die Südschweiz. Für die Regierung ist das Tessin offenbar verbrannte Erde.
Die Folge: Die Tessiner entscheiden selbständig und häufig am Mainstream vorbei. Sogar deren Grüne empfehlen ein Ja zur SVP-Initiative. Gründe: Migrationsprobleme, Grenzgänger und ein damit überfluteter Arbeitsmarkt. Mit Folgen, weiss die Tessiner SP-Vizepräsidentin Marina Carobbio (47): «Die Arbeitslosigkeit ist höher als in anderen Landesteilen. Es gibt Lohndumping, und Einheimische werden aus dem Arbeitsmarkt gedrängt.» Der Bundesrat müsste dem Rechnung tragen. «Die Skepsis gegenüber der Personenfreizügigkeit hat nichts mit Fremdenfeindlichkeit zu tun, sondern mit der wirtschaftlichen Situation.»
Dass die Tessiner Grünen die Masseneinwanderungs-Initiative entgegen der nationalen Parteiräson unterstützen, bringt Fraktionschef Balthasar Glättli (41) auf die Palme: «Wenn es im Tessin Unternehmen gibt, die 2000 Franken für eine Vollzeitstelle zahlen, dann ist das ein Skandal.» Es sei aber politisch eine völlig falsche Reaktion, die SVP-Abschottungs-Initiative anzunehmen. Es brauche vielmehr Minimallöhne, sagt Glättli. Denn: «Zu jedem Dumpinglohn gehört ein Dumping-Arbeitgeber!»
Neu ist die kritische Haltung jedoch im Tessin nicht: Schon mehrmals hat die Südschweiz mit Entscheidungen an der Urne überrascht. Die Lega, rechts der SVP, ist auf dem Vormarsch. Und erst im Herbst sorgte das Ja zum Burkaverbot international für Schlagzeilen.
Die Masseneinwanderungs-Initiative hat im Tessin gute Chancen. SVP-Generalsekretär Martin Baltisser (44) freuts: «Wir bemerken eine breite Zustimmung quer durch alle Tessiner Parteien. Betrachtet man die Probleme auf dem Arbeitsmarkt, ist dies nachvollziehbar.» Die lokale Kampagne sei massgeschneidert und nehme die Sorgen auf, sagt Baltisser.
Das Rennen werde auf der Zielgeraden entschieden, ist Marina Carobbio sicher: «Die Stimmung im Tessin könnte drehen. Wenn dem Kanton die Hand gereicht würde.»
Andreas Käsermann