RollstuhlUta Herbert/pixelio.de

Barrierefreies Bauen nützt allen

Wir sor­gen vor, wir pla­nen, denken voraus, äuf­nen eine dritte Säule; bloss beim eige­nen Zuhause – der mitunter wichtig­sten Investi­tion im Leben – geht der Vor­sorgegedanke häu­fig vergessen. Oft wer­den Woh­nun­gen gekauft oder Häuser gebaut, welche später zum Bumerang wer­den. Das müsste nicht sein.

aus casanos­tra 143

Casafair Schweiz

Die meis­ten Men­schen sind irgend­wann in ihrem Leben zeitweilig hand­i­capiert: Nach dem Bein­bruch ist der Bade­wan­nen­rand ein schi­er unüber­wind­bares Hin­der­nis; bricht man sich den Arm, wird gar das lap­i­dare Binden der Schuhe zur Her­aus­forderung, an welch­er manch ein­er grandios scheit­ert. Nach ein paar Wochen jedoch ist der Knochen heil und der Gedanke an die Unzulänglichkeit­en des Kör­pers sowie dessen Gebrech­lichkeit ver­flo­gen.

Dabei ist diese Lebenser­fahrung All­t­ag für nicht wenige: In der Schweiz leben gemäss Zahlen des Bun­de­samts für Sta­tis­tik BFS über 1,8 Mil­lio­nen Men­schen mit ein­er Behin­derung – 484 000 davon mit ein­er starken Beein­träch­ti­gung. Für sehr viele dieser Men­schen sind auch die paar weni­gen Trep­pen­stufen zur Hoch­parter­re­woh­nung ein Hin­der­nis; die hohen Küchen- und Ein­bauschränke kein Gewinn.

Viele sind sich der Bedürfnisse älter­er Men­schen wenig bewusst. Wer­den sie jedoch damit kon­fron­tiert, find­en sie diese wichtig und set­zen sich dafür ein.

Aber auch im Alter tauchen andere Ansprüche an die Woh­nung auf. Und die Gruppe wächst: Ende let­zten Jahres lebten gemäss BFS in der Schweiz 1,1 Mil­lio­nen über 65-Jährige – davon fast ein Drit­tel über 80-Jährige. Auch sie prof­i­tieren, wenn Architek­ten, Plan­er und Bauher­ren an mehr Even­tu­al­itäten denken, als die Gegen­wart dies hergibt. «Ich glaube, es hat zum Teil auch mit fehlen­dem Bewusst­sein zu tun, dass das The­ma ‹Bar­ri­ere­frei­heit› immer noch viel zu wenig in die Pla­nung mit ein­be­zo­gen wird», mut­masst San­dra Remu­nd, Vor­standsmit­glied des Hausvere­ins Zen­tralschweiz. Sie und ihr Team der Architek­tur-Fir­ma Alter­via GmbH haben sich auf die Entwick­lung von Leben­sräu­men für älter wer­dende Men­schen spezial­isiert. «Mit einem Umdenken und dem Loslassen von auss­chliesslich design-ges­teuerten Vorstel­lun­gen wäre schon viel gewon­nen.» 

Die kleinen grossen Hürden

Oft stolperten ger­ade ältere Men­schen über Kleinigkeit­en. Etwa in der Küche, wo heute häu­fig Herde mit Berührungssen­soren einge­baut wer­den. Ein Prob­lem, wenn ob zunehmender Alterssichtigkeit die kleinen dig­i­tal­en Zif­fern nicht mehr erkan­nt wer­den: «Zudem nimmt die sen­sorische Fähigkeit ab und das Bedi­enen mit dem Fin­ger wird zum Prob­lem. Die Kon­se­quenz für diese Per­son ist, dass sie nicht mehr sel­ber kochen kann, obwohl sie dazu mit einem anderen Herd dur­chaus noch in der Lage wäre.»

TicketautomatUschi Dreiucker/pixelio.de

Auch Men­schen mit Behin­derung scheit­ern häu­fig an kleinen Din­gen, welche eine grosse Hürde darstellen: die Höhe der Son­ner­ie, der Gegen­sprechan­lage, der Briefkästen. Weit­er geht in der Pla­nung ab und an die Bedi­en­barkeit von Türen und der unge­hin­derte Zugang zu Ein­stell­hallen oder zu wichti­gen Neben­räu­men wie Keller und Waschküche vergessen, wie Nicole Woog, Architek­tin und Lei­t­erin der Koor­di­na­tion­sstelle Bauen und Umwelt der Pro Infir­mis bemän­gelt: «Stufen und Schwellen kön­nen ganze Gebäude­teile für Men­schen im Roll­stuhl unzugänglich machen und sie auss­chliessen. Dies wäre ein­fach zu ver­mei­den.» Bar­ri­ere­frei zu bauen, ist überdies kein Stör­fak­tor für Per­so­n­en ohne Hand­i­cap. Im Gegen­teil: Die hin­dern­isfreie Bauweise verbessere die Benutzbarkeit des Gebäudes und den Kom­fort für alle Benutzer: «Es prof­i­tieren ältere Men­schen, Per­so­n­en mit kleinen Kindern und Kinder­wa­gen, mit Reisegepäck oder schw­eren Einkäufen und sie erle­ichtert den Ein- und Auszug. Die hin­dern­isfreie Bauweise ist somit ein Mehrw­ert für die gesamte Gesellschaft.» Ein­er, der sich überdies auszahle, meint San­dra Remu­nd: «Wenn die eigene Woh­nung es erlaubt, so lange wie möglich selb­ständig zu leben, kann manch ein frühzeit­iger Umzug in eine sta­tionäre Ein­rich­tung ver­hin­dert wer­den.»

Noch Luft nach oben

Die Sit­u­a­tion und die Denkweise habe sich freilich in den let­zten Jahren deut­lich verbessert. Seit Inkraft­treten des Behin­derten­gle­ich­stel­lungs­ge­set­zes 2004 und der SIA-Norm 500, welche das hin­dern­isfreie Bauen vorschreibt, ist das The­ma bei der Pla­nung stärk­er präsent.

Bei öffentlichen Gebäu­den sei die Hin­dern­isfrei­heit sei­ther weit fort­geschrit­ten. «Im Woh­nungs­bau hinge­gen hapert es noch», sagt SP-Stän­derätin Pas­cale Brud­er­er, Präsi­dentin des Dachver­bands der Behin­dertenor­gan­i­sa­tio­nen Inclu­sion Hand­i­cap: «Vor allem ältere Mehrfam­i­lien­häuser sind für Men­schen mit Behin­derung oft ein Prob­lem. Es gibt viel zu wenig Woh­nun­gen, die behin­derten­gerecht gestal­tet sind.» Immer­hin habe sich die Sit­u­a­tion bei neu erstell­ten Miethäusern verbessert.

Eine Woh­nung hin­dern­isfrei zu gestal­ten ergibt dur­chaus auch einen Mehrw­ert. Dies min­destens zu prüfen, lohnt sich auf jeden Fall.

Dabei sei der Bau von bar­ri­ere­freien Woh­nun­gen nicht primär eine Kosten­frage: Neubaut­en hin­dern­isfrei zu erstellen, mache auf der Kosten­seite ein Plus von etwa 2,6 Prozent aus, erläutert Nicole Woog: «Je früher die hin­dern­isfreie Bauweise im Pla­nung­sprozess mit ein­be­zo­gen ist, desto gün­stiger wird sie.» Aufwendi­ger sind Anpas­sun­gen von älteren Gebäu­den: Durch­schnit­tlich  beträgt der Mehraufwand bei Umbaut­en 5,9 Prozent. Es könne auch Aus­reiss­er nach oben geben, räumt Pas­cale Brud­er­er ein: «Die Abklärun­gen lohnen sich immer. Auch wenn es vere­inzelt Fälle gibt, in denen sich ein behin­derten­gerechter Umbau auf­grund fehlen­der Ver­hält­nis­mäs­sigkeit schlicht nicht umset­zen lässt.» Richtig kom­pliziert kann es zudem wer­den, wenn ein Gebäude unter Denkmalschutz ste­ht.

Hindernisse selbst im Bundeshaus

BundeshausBéa­trice Devènes/Parlamentsdienste

Wie wenig sen­si­bil­isiert die Schweiz­er Poli­tik hin­sichtlich Bar­ri­ere­frei­heit lange Zeit war, zeigt auch die Tat­sache, dass das Bun­de­shaus fast neun­zig Jahre lang nicht roll­stuhlgängig war.

Erst 1991 sah sich Bun­des­bern mit der dama­li­gen Wahl des unlängst ver­stor­be­nen Marc F. Suter (FDP/BE) in den Nation­al­rat mit einem ern­sthaften Prob­lem kon­fron­tiert: Der quer­schnittgelähmte Nation­al­rat Suter kon­nte nicht durch die übliche Pforte in den Ratssaal und in die Sitzungsz­im­mer gelan­gen. In aller Eile wur­den mehrere Trep­pen­lifte in Auf­trag gegeben, die jedoch bei der ersten Ses­sion Suters noch nicht mon­tiert waren. Marc F. Suter musste aus diesem Grunde während seinen ersten Tagen im Amt noch über einen Liefer­an­tenein­gang ins Bun­de­shaus gelan­gen.

Ganz hin­dern­isfrei ist das denkmalgeschützte Bun­de­shaus übri­gens auch heute nicht: Das offizielle Red­ner­pult der grossen Kam­mer ist für den eben­falls an den Roll­stuhl gebun­de­nen Nation­al­rat Chris­t­ian Lohr (CVP/TG) unerr­e­ich­bar. Seine Voten hält Lohr darum jew­eils im Hal­brund vor dem Ratskol­legium.

Bauherrschaften sensibilisieren

Dass Architek­tin­nen und Bau­plan­er ver­mehrt an Hin­dern­isfrei­heit denken, ist gut. Warum jedoch ist die Fragestel­lung bei der Bauherrschaft so wenig präsent? Oft werde die Möglichkeit eines schw­eren Hand­i­caps aus­geschlossen und das eigene Altern ver­drängt: «Wer nicht sel­ber bere­its direkt oder indi­rekt betrof­fen ist, schenkt dem The­ma wenig Aufmerk­samkeit», stellt Brud­er­er fest. Dabei ist doch ganz beson­ders im Alter ein Wegzug aus der liebge­wonnenen Umge­bung eine markante Zäsur; eine grosse Belas­tung noch dazu. Die Betrof­fen­heit im eige­nen Umfeld könne jedoch zum Umdenken bewe­gen, sagt Architek­tin San­dra Remu­nd: «Ich mache die Erfahrung, dass Men­schen, welche sich ger­ade mit der Gebrech­lichkeit der eige­nen Eltern auseinan­derzuset­zen haben, sich des Prob­lems plöt­zlich bewusst wer­den. Dass ein fehlen­der Hand­lauf oder ein Türschliess­er dazu führen kön­nen, dass eine frag­ile Per­son das Haus nicht mehr ver­lassen kann.»

Der Bedarf an hin­dern­isfreiem Wohn­raum wird spür­bar steigen und Neubaut­en allein wer­den diesen nicht abdeck­en kön­nen. Es ist deshalb eine gesellschaftliche Notwendigkeit, beste­hende Wohnge­bäude hin­dern­isfrei anzu­passen.

Das Behin­derten­gle­ich­stel­lungs­ge­setz ver­langt, dass Wohn­baut­en mit mehr als 8 Wohnein­heit­en hin­dern­isfrei gebaut wer­den müssen. Für Pro Infir­mis ist dieser Gren­zw­ert zu hoch ange­set­zt, hält Nicole Woog dage­gen: «Mehrfam­i­lien­häuser mit so vie­len Woh­nun­gen sind fast nur in den grösseren Zen­tren zu find­en. Ide­al­er­weise wür­den Wohn­baut­en ab 4 Woh­nun­gen hin­dern­isfrei gebaut.» Immer­hin seien die Kan­tone frei, den vom Bund vorgeschriebe­nen Gren­zw­ert zu unter­schre­it­en. So müssen etwa in den Kan­to­nen Basel-Stadt und Genf neu bewil­ligte Wohn­baut­en ab 2 Ein­heit­en hin­dern­isfrei sein. Mit den kan­tonalen Geset­zes­re­vi­sio­nen verbesserten sich die Anforderun­gen aber laufend, ergänzt Woog.

ZeitungsleserRain­er Sturm/pixelio.de

Das Bohren dicker Bretter

Dass die Vor­gaben des Bun­des dere­inst weit­er ver­schärft wer­den, unter­stützt auch Stän­derätin Pas­cale Brud­er­er. Immer­hin habe die Schweiz die Uno-Behin­derten­recht­skon­ven­tion rat­i­fiziert – sei aber in deren Erfül­lung im Rück­stand: «Es hat sich einiges getan, wir haben aber noch zu viele Defizite in der Gle­ich­stel­lung von behin­derten Men­schen. Wir leis­ten sehr viel Überzeu­gungsar­beit im Departe­ment des Innern.» Die Frage des geset­zlich vorgeschriebe­nen Woh­nungsange­bots für Men­schen mit Hand­i­cap müsse unbe­d­ingt weit­er disku­tiert wer­den.

Andreas Käser­mann