Auf neuen Wegen gehen
Dass das alte Rezept mit neuen Strassen zur Bewältigung des Verkehrs nicht so richtig funktioniert, ist beileibe kein Geheimnis. Nichtsdestotrotz setzt der Bund auf noch mehr Strassen. Ein Anachronismus – immerhin einer mit Alternativen.
Erinnern Sie sich an Marty McFly? Der Gitarre spielende, adoleszente Skateboarder aus der «Back To The Future»-Trilogie, der stets in Jeans und Flanellhemd schlief? Dieser Marty McFly hat zusammen mit dem gleichermassen wirren wie genialen Tüftler Doc Brown die Vergangenheit ebenso bereist wie die Zukunft.
Etliche Prophezeiungen aus den 80er-Jahre-Filmen haben sich bislang nicht bewahrheitet. Etwa, dass Autos fliegen können und der Strassenverkehr auf stark frequentierten Highways hoch im Himmel vonstattengeht. In einem Punkt behielt der kultige Science-Fiction-Klamauk indes Recht: Es wird eng auf erdgebundenen Strassen. Dabei hätten wir einiges zur Hand, das hülfe.
Da wäre mal das Homeoffice. Die letzten drei Jahre mit Corona haben uns gelehrt, dass Telearbeit in vielen Bereichen möglich ist – auch dank der fortschreitenden Digitalisierung. Würden als Pandemie-Lehre alle Arbeitnehmenden einmal wöchentlich zu Hause arbeiten, fielen durchschnittlich 20 Prozent der Pendelfahrten weg. Wenn überdies jene, die zum Arbeitsort fahren müssen, von den Vorzügen flexibler Arbeitszeiten profitieren können, würden die Engpässe im Berufsverkehr zusätzlich entschärft. Die Folge wären minder vollgepfropfte Züge und Busse und weniger Autos, welche sich in Staus einreihen.
Autos besser auslasten
Der Grossteil der Autos ist heute mit einer Einzelperson unterwegs. An einer beispielhaften Kreuzung mit Ampeln fahren so zur Hauptverkehrszeit während fünf Grünphasen etwa 80 Personen stadteinwärts. Bei vollbelegten Autos könnten es um die 300 sein.
Nun wäre es ja nicht das Ziel, möglichst viele Menschen stadteinwärts fahren zu lassen, sondern nur jene, die dort auch hin müssten. Die Zahl der vorbeifahrenden Autos würde darum bei Vollbelegung an der fraglichen Kreuzung um über 70 Prozent sinken. Das ist ein schlagendes Argument für Carpooling: das Fahrzeug wird gleichzeitig von mehreren Personen genutzt, welche dieselbe Strecke fahren.
Der Bundesrat will Rahmenbedingungen schaffen, welche das Carpooling bevorzugen und fördern. Bestimmte Fahrspuren sollen neu nur noch von Autos mit einer Mindestanzahl von Mitfahrenden genutzt werden dürfen. Aus irgendeinem unerfindlichen Grund bedeutet das alleine benutzte Auto aber offenbar für viele immer noch Freiheit – wenn auch eine, die nicht selten im nächsten Stau jäh endet.
Simulation mit künstlicher Intelligenz
Offenbar vermag dieser Umstand aber nicht ernsthaft zu stören. Die neuralgischen Stellen werden zuverlässig jeden Tag zu Hauf angesteuert. Das interessiert das Institut für Verkehrsplanung der ETH Zürich. Dort wird in Computersimulationen erforscht, wie sich Veränderungen eines Verkehrssystems auswirken. Etwa die Sperrung einer Fahrspur, auch eine Erweiterung durch Ausbau oder kürzere Grünphasen der Ampel.
Dazu werden Daten zum realen Verkehrsaufkommen an der gerade zu untersuchenden Stelle verwendet. Die Forschenden generieren virtuelle Verkehrsteilnehmende und nennen diese «Agents». Deren Wissensstand ist anfangs bei 0 und sie enden zunächst zuverlässig im simulativ entstehenden Stau – fast wie die echten Menschen. Die «Agents» sind aber lernfähig und versuchen bei jedem weiteren Durchgang der Simulation das Fahrverhalten und die Route zu optimieren. Dank der gespeicherten Daten sind sie dazu besser in der Lage als der Mensch hinter dem Lenkrad, dessen Horizont im Stau an der Heckscheibe des nächsten Wagens endet.
Die Erkenntnisse aus der ETH-Simulation helfen Verkehrsplanerinnen und ‑planern bei der Justierung von Steuerungsmassnahmen. Sie zeigen aber auch, ob ein geplanter Ausbau oder eine neue Umfahrung die gewünschte Wirkung zeitigen wird.
Firmen können Flagge zeigen
Auch Unternehmen haben Möglichkeiten, dem Verkehrskollaps entgegenzuwirken. Ein schillerndes Beispiel hierfür ist das BMW-Werk im niederbayrischen Dingolfing – hinsichtlich Verkehrsanschlüssen nicht gerade der Nabel der Welt. Die gewaltige Produktionsstätte wurde Anfang der 70er-Jahre eröffnet und die Verkehrsbelastung der beschaulichen Kleinstadt mit 18 000 Einwohnerinnen und Einwohnern stieg in der Folge erheblich.
BMW hat aus diesem Grund vor rund 40 Jahren einen Pendelbusverkehr eingerichtet. Über 250 Busse bedienen seither täglich mehr als 2500 Haltestellen bis weit über die Bezirksgrenze hinaus. Hierbei legen die Busse Tag für Tag insgesamt gut 40’000 Kilometer zurück. Gut zwei Drittel der 17’000 BMW-Angestellten, welche im Werk Dingolfing arbeiten, nutzen das unternehmenseigene Bussystem.
Selbstredend, dass derlei für das Gros der Unternehmen eine Nummer zu gross ist. Dank des dichten Schweizer ÖV-Netzes stellt sich die Frage bei vielen hiesigen Unternehmen gar nicht erst. Dennoch wäre es möglicherweise ab und an eine Überlegung wert, ob es zum grosszügigen – und durchaus teuren – Personalparkplatz nicht doch Alternativen gäbe.
E‑Autos im Carsharing nutzen
Der VCS hat 2021 aufgrund einer Verkehrsstudie seinen Masterplan «fossilfreier Verkehr» formuliert. Die wichtigste Erkenntnis aus der Studie: Die Ziele des Pariser Klimaabkommens lassen sich nur erreichen, wenn die Welt bis spätestens 2050 aus den fossilen Energieträgern aussteigt. Die Lösung sieht der VCS im Ausbau des ÖV und in der Verbesserung der Velo-Infrastruktur. Für die dann noch verbleibenden Autos schlägt der VCS einen Verkaufsstopp für Fahrzeuge mit Verbrennungsmotor vor. An derer statt sollen Elektrofahrzeuge eingesetzt werden. Das ist allerdings auch nicht ganz ohne: Die Herstellung von Elektroautos ist ressourcenintensiver als die Produktion herkömmlicher Autos.
Darum wäre es interessant, wenn Elektrofahrzeuge nach der Fahrt nicht völlig sinnlos stundenlang auf einem Parkplatz stünden, sondern nach kurzem Aufladen wieder verwendet würden. Der Vorteil von E‑Autos gegenüber Modellen mit Verbrennungsmotor steigt, wenn sie häufig genutzt werden – etwa im Carsharing.
Nicht zuletzt aus diesem Grund setzt der Carsharing-Dienst Mobility auf Elektroautos und will bis 2030 die gesamte Flotte elektrisch betreiben. Gemäss Aussagen des Carsharers ersetzt ein Mobility-Auto mittlerweile etwa elf Privatautos. Durch die Flottenumstellung könnten mehrere 10’000 Tonnen CO2 eingespart werden. Das schenkt ein.
Wider den Verkehrskollaps
- Carpooling: Mittels Carpooling lassen sich Autofahrten besser auslasten. Mehrere Personen mit selbem Ziel oder gleicher Fahrtrichtung bilden Fahrgemeinschaften. Wie solche organisiert werden können, erfahren Sie unter www.verkehrsclub.ch/auto/autoteilen
- Carsharing: In der Schweiz ist in erster Linie Mobility als Branchenprimus bekannt. Doch Autoteilen geht auch in der Nachbarschaft als private Initiative. Mehr erfahren Sie unter www.verkehrsclub.ch/auto/autoteilen
- Carfree-Initiative: Das beste Auto ist jenes, das gar nicht gebaut wird. Gemäss Bundesamt für Statistik verzichtet mehr als ein Fünftel der Schweizer Haushalte auf ein eigenes Auto. In den Städten ist es fast die Hälfte der Haushalte; viele kombinieren dabei Carfree mit Carsharing. Infos zur Carfree-Initiative unter www.vcs-carfree.ch
- Masterplan «fossilfreie Mobilität»: Der VCS hat aufgrund einer Mobilitätsstudie mit mehreren Zukunftsszenarien einen Masterplan ausgearbeitet, mit welchem der Verkehr der Zukunft ohne fossile Treibstoffe auskommt. Details unter www.verkehrsclub.ch/klimaschutz
Mit Mobility Pricing gegen den Verkehrskollaps
Ein weiteres probates Mittel, das gegen verstopfte Städte wirkt und international vielerorts gut funktioniert, ist Mobility Pricing. In der Schweiz stösst das Konzept einer Strassenmaut allerdings auf heftige Gegenwehr. Jahrelang wurde jeglicher Gedanke an das Verursacherprinzip bei der Strassennutzung im Keim abgemurkst. Darum stehen wir in Sachen Mobility Pricing noch ganz am Anfang. Immerhin sollen jetzt Pilotversuche möglich werden. In deren Rahmen soll die Bevölkerung merken, dass Mobility Pricing kein Teufelswerk ist – vielmehr können die Städte und Agglomerationen entlastet und die dortige Lebensqualität verbessert werden.
Ausserdem könnten aus bestehender Praxis Lehren gezogen werden: Bereits heute gibt es im ÖV Preisabstufungen, mit welchen sich die Zugauslastung über den Tag steuern lässt. Wenn auch das Preissystem eines Mobility Pricings so angelegt wird, dass die Fahrt während der Hauptverkehrszeiten mehr kostet als zu anderen Tageszeiten, dürfte dies den Strassenverkehr zusätzlich lenken. Ausbauvorhaben zum Bewältigen der Pendlerspitzen könnten auf einen Schlag obsolet werden.
Neue Ansätze fördern
Der JungVCS hat im Herbst mit einer Aktion auf dem Bundesplatz deutlich gemacht, dass ein weiterer Strassenausbau für künftige Generationen nicht tragbar ist. Ebenda übrigens, wo sich bis vor 20 Jahren noch Auto an Auto reihten. Das wenig repräsentative Freiluft-Parking wich 2004 dem heute bekannten Platz mit Treffpunkt-Charakter. Auch wenn vor der Umgestaltung Zweifel laut wurden, möchte mittlerweile kein Mensch den hässlichen Parkplatz zurück. Und auch in anderen Städten wird der Autoverkehr mehr und mehr aus dem Zentrum verbannt.
Es wäre also doch recht töricht, dafür anderswo wertvolle Kulturfläche zuzubetonieren und noch gigantischere Autobahnkreuze hochzuziehen, bloss um die kurzen Spitzen des Stossverkehrs zu brechen. Oder wie Doc Brown im eingangs erwähnten Film treffend sagte: «Strassen? Wo wir hinfahren, brauchen wir keine Strassen!»
Andreas Käsermann