Seit dem Wahlsonntag Ende November letzten Jahres ist die Länggass-Deputation im Stadtparlament um einen Namen gewachsen: Maurice Lindgren hat auf Anhieb die Wahl in den Stadtrat geschafft. Das Länggassblatt hat den Jungpolitiker kurz vor Amtsantritt getroffen.
Treffpunkt Kung-Fu-Schule Fama im Weissenbühl. Im Trainingsraum stehen leicht bizarre, schwarz lackierte, bisweilen gefährliche anmutende Gerätschaften und Utensilien, deren Sinn oder Funktion sich dem Laien nicht ohne weiteres zu erschliessen vermag. Wing Chun trainiert Maurice Lindgren hier. Eine Kampfsportart zur Selbstverteidigung; eine Ausprägung des Kung Fu, wie sie weiland auch Bruce Lee ebenso schlagkräftig wie leinwandgerecht praktizierte.
Der Kampfsport – den Maurice Lindgren seit Jahren leidenschaftlich und mit Herzblut betreibt – habe durchaus etwas Philosophisches. «Übersetzt bedeutet Kung Fu etwa harte Arbeit oder langer Weg. Also das Dranbleiben mit Einsatz, Ernsthaftigkeit und kritischem Geist. Das ist auf alle Lebensbereiche anwendbar», betont er. «Von einer Nonne entwickelt, zielt Wing Chung darauf ab, sich mit einfachen Bewegungen und möglichst wenig Kraftaufwand effizient gegen einen Angreifer zur Wehr zu setzen.»
Man sieht es ihm zwar nicht an, denkt sich wer Lindgrens Training beobachtet; ihn aber körperlich anzugreifen, wäre vermutlich keine gute Idee. Zu Boden gehe aber im Training keiner, sagt Lindgren. Die Hiebe werden denn auch rechtzeitig vor der Kollision mit dem Nacken abgebremst, die Fäuste treffen den Kiefer des Sparringpartners nicht – zu dessen Wohl freilich.
Freude an der kämpferischen Debatte
Wenn schon müsste es ein verbales Duell sein. Auch diese Disziplin beherrscht der Jungpolitiker, der durchaus Parallelen zwischen Kampfsport und der Debatte sieht. «Es geht hier wie dort um Respekt vor dem Gegenüber. Und darum, den Hebel am richtigen Ort anzusetzen, um eine grosse Wirkung zu erzielen.»
Politisch aktiv ist Maurice Lindgren seit sieben Jahren. «Politisiert wurde ich vor allem durch die Volksabstimmung über die Minarett-Initiative», erinnert er sich. «Ich konnte nicht glauben, dass dieses Volksbegehren an der Urne eine Chance hat.» Das war im November 2009. Damals wurde das Bauverbot für Minarette überraschend in die Bundesverfassung gehievt. Mit 57.5 % Ja-Stimmen und 19.5 zustimmenden Kantonen. Während die Rechte jubelte und frohlockte, war die Linke ebenso entsetzt wie konsterniert. Für Maurice Lindgren war das die Zündung. Als 22jähriger war für ihn klar: Er will sich politisch engagieren. Nur so unternehme man etwas gegen derlei Überraschungen, war er der Ansicht. Bereits einen Tag nach der Abstimmung sei er darum der Grünliberalen Partei beigetreten.
Die politische Mitte ist seine Heimat. «Sowohl SP und Grüne wie auch SVP und FDP sind mir zu dogmatisch. Diese Parteien beschränken sich viel zu stark auf Ideologien und blenden oft die Folgen eines Entscheids aus. Ich sehe mich als Pragmatiker und bin der Ansicht, dass auch eine prosperierende Wirtschaft umweltverträglich gestaltet werden kann. Das entspricht sehr genau dem Programm der Grünliberalen.» Diese haben das Talent und das Engagement Lindgrens offensichtlich erkannt: Er wurde zunächst in den Vorstand der Stadtpartei gewählt und im letzten Jahr setzte ihn die Partei gar auf den Wahlzettel für die Berner Stadtregierung. Als Listenfüller auf dem letzten Platz zwar; die zusätzliche Publizität, die Gemeinderatskandidaten gewöhnlich zuteil wird, war dem Wahlkampf jedoch offensichtlich zuträglich: Lindgren schaffte es als schweizweit erster Kandidat einer Liste der jungen glp und als einziger neuer Länggässler in die Legislative der Stadt.
Aus der Werkstatt an die Uni
Dass Lindgren sich für die politische Mitte engagiert, kommt nicht von ungefähr. Der 29jährige ist zwar unterdessen Volkswirtschaftsstudent an der Uni Bern, er hat aber bereits eine abgeschlossene Berufslehre als Automechaniker im Curriculum Vitae. «Ich habe immer noch Benzin im Blut», schwärmt er. «Ich habe meine Lehre bei einem Betrieb der General Motors gemacht und das Dröhnen eines V8-Motors ist Musik in meinen Ohren», sagt einer, der zwar von der eigenen Corvette träumt; jedoch aus ökologischen Gründen – und wohl auch aus Mangel am nötigen Kleingeld – ganz aufs Auto verzichtet. Das mit dem Automech sei aber dann doch nicht ganz sein Ding gewesen. Das habe er bereits während der Berufslehre festgestellt. Vor allem mit den Berufskollegen sei es nicht immer einfach gewesen. «Viele sind politisch stark rechts geprägt – das war nicht meine Welt.» Er entschied sich für die Berufsmatura und legte nach der Lehre den Schraubenschlüssel zugunsten des Studiums hin.
Nun kommt zum Abschluss des Studentenlebens mit dem Einzug in den Stadtrat ein weiterer Lebensabschnitt. Und – wie er sagt – eine neue Art des «Büffelns». Er sei vor der ersten Stadtratssitzung mit reichlich Unterlagen eingedeckt worden. Alles auf elektronischem Weg, zumal der Ratsneuling auf die Papierlieferung verzichtet, «Das sind Unmengen an Dokumenten und deren Sprache ist nicht eben lesefreundlich.» Auf die Arbeit im Parlament freut sich Lindgren jedoch ungemein: «Man muss bescheiden bleiben und seinen Einfluss nicht überschätzen. Aber es ist schon toll, wenn man an der Entscheidfindung teilhaben darf.»
Wehret den Pollern
Einen politischen Masterplan habe er jedoch vorderhand nicht. «Zunächst muss ich mich in den Ratsbetrieb einarbeiten. Das Handwerk will ich mir aber rasch aneignen.» Ein Problem aus seinem Alltag ist Maurice Lindgren dann letztlich doch zu entlocken: «Ich fahre gelegentlich für den Thaifood-Kurier. Und dabei ärgere ich mich jeweils über die vielen Poller, die in Bern installiert wurden.» Er sähe den Sinn und den Nutzen von Verkehrsberuhigungen auch ein. «Jedoch bedeutet eine Durchfahrtssperre an der einen Strasse auch Mehrverkehr auf einer anderen. Es ist ja nicht so, dass eine Fuhre eines Pollers wegen nicht ausgeliefert wird.» Der Fahrer suche sich dann halt Schleichwege. Wenn demnach der Stadtrat dereinst über eine neue Polleranlage entscheidet: ohne Gegenwehr Lindgrens wird ein solches Geschäft kaum durchkommen. «Ich habe noch keine Patentlösung parat. Aber einen Poller hinzupflanzen, kann ja kaum der Weisheit letzter Schluss sein.»
Ein Graus sind ihm Hinterbänkler. So wolle er bestimmt nicht enden, sagt er. «Ich sehe mich nicht als Stimmvieh der Fraktion und will mich einbringen.» Schrille Töne jedoch werden von Stadtrat Lindgren kaum zu erwarten sein. Er hat ein liberales Gemüt, wirkt ruhig und besonnen. Keinerlei Anzeichen von Flegeljahren. Er hat aber auch seine Erwartungen ans politische Gegenüber: «Ich bin kein Freund von Tabus.» Es sei hin und wieder nötig, offen und unvoreingenommen zu diskutieren. Grenzen gibt es dabei für den Ratsnovizen keine: «Wir müssen über die Zulassung des Taxidienstes Uber ebenso offen diskutieren wie über die Zukunft der Konvention der Menschenrechte. Dabei kann es sein, dass eine kluge Reform im Konsens entsteht oder dass man letztlich doch zum Schluss kommt, dass der bisherige Weg der beste sei.» Diese Erkenntnis könne aber nur nach einer ergebnisoffenen und nicht-ideologischen Diskussion gedeihen.
Eine letzte Frage muss freilich doch noch beantwortet werden: Ist Stadtrat Lindgren mit der Pippi-Langstrumpf-Autorin Astrid Lindgren verwandt? Lachen. Man bemerkt: zum ersten Mal hört der Jungpolitiker diese Frage nicht. «Lindgrens gibt es in Schweden etwa so häufig wie Müllers in der Schweiz!» Nun, dann wäre also auch das geklärt.
Andreas Käsermann