And The Groove Goes On And On
Im legendären Bierhübeli gibt es einen Geheimtipp für Liebhaberinnen und Liebhaber des Bigband-Jazz: Jeden Montagabend spielt das Swiss Jazz Orchestra. Dessen neue Saison startet im Oktober. Das «Länggassblatt» war an der Dernière der letzten Saison dabei.
Akkurat eingerichtet ist die Bühne an diesem Montagabend im Bierhübeli. Edle Pulte, welche jeweils einen grossen Notenständer kaschieren; hinter jedem der Notenständer ein Stuhl und auf der ganzen Bühne mindestens zwei Dutzend Mikrofone mit sorgsam verlegten Kabeln, die irgendwo unter den schwarzen, schweren Seitenvorhängen verschwinden. Es sieht ordentlich aus auf der Bühne. Aber nicht mehr lange. Denn nun erscheinen die Musiker mit ihren glänzenden Instrumenten auf der perfekt ausgeleuchteten Szene.
Nun ist Schluss mit der Ruhe: Die Instrumentalisten nehmen ihre Plätze ein, einige bereits im schwarzen Anzug, andere gewandet mit einer Mischung aus Eleganz und Casual Wear, einer noch im grünen Shirt – als ob er direkt vom Zahnarzttermin käme. Der bunte Auftritt gemahnt an die Einnahme der Bühne durch die Bourbaki-Armee. Jeder sucht seinen Platz, sortiert die Notenblätter, rückt erst den Stuhl, dann sein Mikrofon zurecht, setzt ein poliertes Mundstück auf sein Instrument. Ein paar tuscheln mit ihrem Pultnachbarn; einer Schulklasse gleich, deren Lehrer eine unvorbereitete Klausur angesetzt hat.
Der Herr am Klavier ganz links auf der Bühne versucht Ordnung zu schaffen. Er scheint als Kapellmeister gleichsam das Sagen zu haben. Das Getuschel verebbt und die Gesichter wenden sich dem Herrn an den Tasten zu. Bloss zwei Männer mit Trompeten ganz hinten rechts amüsieren sich offensichtlich köstlich über einen Scherz. Der Chef am Klavier gibt mit ein paar Anweisungen zu verstehen, was nun das offensichtlich anstehende ist: Orchesterprobe. Die Musiker blättern erneut emsig in ihren Noten; einer von ihnen geht zum bislang verwaisten Solisten-Mikrofon am Bühnenrand, bläst einen kurzen Lauf in sein Saxophon, als ob er sich vergewissern möchte, dass sein Instrument auch heute noch klingt. Er wird nicht enttäuscht.
«Eins – zwei – eins, zwei, drei, vier …»: Der Kapellmeister zählt an und die Minen werden allenthalben ernst. Das Swiss Jazz Orchestra spielt zur Probe auf. Nach einem Takt ist die Assoziation des Bourbaki-Freischärlerhaufens verblasst. Der Beobachter wähnt sich im Chicago-Ballroom der 40er-Jahre. Jazz at it’s best. Niemand wäre ernsthaft überrascht, wenn die Szene nun plötzlich in schwarz-weiss erschiene und sich Meister Duke Ellington, Crooner Cab Calloway oder Virtuose Dave Brubeck gleich fingerschnippend zu den 16 Musikern gesellte und wie weiland ein paar Nummern zum Besten gäbe.
Langjährige Tradition
So geht das jeden Montagabend zu und her im Berner Bierhübeli an der Neubrückstrasse. Erst Orchesterprobe, wo sich Gastmusiker akklimatisieren, Solisten ihre Riffs noch einmal proben, Techniker die perfekte Tonmischung finden und eine halbe Stunde später dann das bisweilen äusserst treue Publikum von der Bigband – nun freilich vollständig uniform im schwarzen Anzug gekleidet – begrüsst wird. Jeden Montag von anfangs Oktober bis Ende Mai. Seit 2003 – in wenigen Wochen beginnt die neue Saison.
Dabei hat alles zwar ambitioniert aber doch als kleines Projekt begonnen, sagt Johannes Walter (Bild rechts), Trompeter seit der ersten Stunde beim Swiss Jazz Orchestra: «Die Ursprungsidee war eine Konzertreihe am Montag. Die New Yorker Jazz-Szene kennt den Montag als Bigband-Abend. Daran haben wir uns orientiert.» Der Grund dafür ist einfach: Die Musiker sind anfangs Woche weniger häufig anderswo engagiert, das Publikum weniger anderweitig beschäftigt und auch geeignete Lokale sind besser verfügbar und können einen flauen Montag mit einer soliden Konzertreihe aufwerten.
Die Idee hat sich gut entwickelt. Mittlerweile ist das Swiss Jazz Orchestra eine Institution und gemäss eigenen Angaben «die meistbeschäftigte professionelle Bigband der Schweiz.» Gut 30 Konzerte spielt das Orchester jährlich im «Hübeli». Plus Gastspiele – unlängst etwa im Rahmen des 100-Jahr-Jubiläums der Auslandschweizer Organisation auf dem Berner Bundesplatz. Daneben tritt das Swiss Jazz Orchestra mit Projekten verschiedenster Stilrichtungen auf, welche bislang zehn Tonträger hergaben.
«Buebetröim»
Besonders eines dieser CD-Projekte sorgte für Aufsehen: 2007 hat sich das Swiss Jazz Orchestra entschlossen mit Rock- und Pop-Koryphäen der Schweiz zusammen zu arbeiten. Entstanden ist die CD «Buebetröim». Mitgemacht haben Kuno Lauener, Büne Huber, Polo Hofer, Sina, Philipp Fankhauser, Freda Goodlett, Schmidi Schmidhauser und Hendrix Ackle. Das Album schaffte es in die Schweizer Charts, die Tracks in die Playlists der kommerziell orientierten Radiostationen und das illuster verstärkte Swiss Jazz Orchestra auf die Hauptbühne am Gurtenfestival.
Das Projekt bescherte der Bigband national Beachtung; innerhalb des Orchestras war es aber nicht unumstritten, wie sich Johannes Walter erinnert. «Es war bestimmt jenes Projekt, das uns landesweit am besten sichtbar machte. Jedoch hatten wir nach diesem Ausflug durchaus auch Stimmen innerhalb der Bigband, die nicht erneut als unauffälliges Begleitorchester für Rock-Grössen spielen, sondern stattdessen künstlerisch wieder selbstbestimmter auftreten wollten.» Zwei Jahre später hat man dennoch mit «Buebetröim II» einen zweiten Versuch mit teilweise neuen, jüngeren Co-Stars gestartet, der jedoch deutlich weniger Wellen schlug.
Das Orchestra macht seither in gewohnter Manier weiter. Noch heute – kurz vor dem mittlerweile 14. Saisonstart der Bigband – spielt ein Viertel der Musiker aus der Gründungsformation ständig mit. Deren Wurzeln liegen in der Tradition der Bigband der Swiss Jazz School in Bern. Diese hat jedoch – wie alle Hochschul-Bigbands – ein Problem: Die Musiker wachsen am gemeinsamen Spiel, doch wenn sie das Studium abgeschlossen haben und richtig gut sind, verlassen sie die Hochschule und somit auch deren Bigband. Aus der Idee einen faktischen «Brain-Drain» zu verhindern, entstand das Swiss Jazz Orchestra. «Ich war im Gründungsjahr 2003 Diplomand an der Jazz School. Der unlängst verstorbene Schulleiter George Robert hat den Stein damals ins Rollen gebracht. In der ersten Saison hat das junge Swiss Jazz Orchestra in Marian’s Jazz Room jeweils den Sonntag bestritten – erst danach kam die Konzertreihe im Bierhübeli zustande.»
Aus Freude am Jazz
Das Swiss Jazz Orchestra wirkt als eingeschworene Truppe. Eine mit einem Haufen Idealismus dazu. Denn: rechnen tun sich die Montagskonzerte beileibe nicht immer: «Wir versuchen die Eintrittspreise mit 20 Franken moderat zu halten. Das heisst aber auch, dass wir praktisch jeden Montag defizitär abschliessen müssten, wenn wir nicht zusätzlich Sponsorengelder einnehmen würden.» Damit die Idee weiterlebt und die Orchesterkasse nicht ins finanzielle Fiasko mündet, wurde ein eigener Träger- und Gönnerverein gegründet, der dem Orchester die materielle Basis sichert.
Was auffällt: Die Protagonisten an den Bierhübeli-Konzerten sind fast ausnahmslos Männer. Eine Dame betreut wohl die Abendkasse und Eingangskontrolle; auf der Bühne jedoch sind bei unserem Besuch 16 Musiker, aber keine Frau zu erspähen. Ist das Projekt Bigband ein Männerding? «Ja, in weiten Teilen», sagt Johannes Walter mit etwas Bedauern: «Jazz – und insbesondere die Bigband – ist leider nach wie vor eine Männerdomäne. Auch an den Jazzschulen studieren immer noch seltener Frauen als Männer. Immerhin haben wir gelegentlich Musikerinnen als ‘Special Guest’ oder aber auch als Ersatz in den Reihen der Band.»
Kurzum steht nun die neue Saison an – mit Start am 10. Oktober 2016. Wie jedes Jahr gibt es rund dreissig Konzerte. Geplant ist auch heuer ein Programm, wie es sich die Bierhübeli-Gäste am Montag gewohnt sind: «Wir werden weiterhin unsere bewährten Themenabende Latin‑, Groove‑, Gala‑, und Tribute-Night spielen. Auch in der neuen Saison haben wir neben beliebten Klassikern auch immer wieder viel Neues im Programm.»
Freilich bestreitet das Swiss Jazz Orchestra die Auftritte auch in der neuen Saison nicht ganz alleine. Die Bigband hat international ein gutes Renommee und so konnten auch für die neue Saison Jazz-Grössen aus aller Welt verpflichtet werden, die der Einladung ins Bierhübeli folgen werden. Auf einige Highlights freut sich Johannes Walter ganz besonders: «Der belgische Trompeter Bert Joris wird im Januar 60 Jahre alt. Das ist uns allemal eine Ehrung wert. Ausserdem steht der deutsche Komponist und Arrangeur Rainer Tempel auf dem Programm und der argentinische Jazzmusiker und Bigband-Leader Guillermo Klein kommt ebenfalls nach Bern. Darauf freue ich mich sehr.»
Die halbe Stunde zwischen Orchesterprobe und Montagskonzert neigt sich dem Ende zu. Die Musiker ziehen sich aus dem Saal zurück hinter die Bühne. Auch Johannes Walter will noch einmal einen kurzen Lauf auf seiner Trompete spielen, bevor es um Punkt 20 Uhr heissen wird: «Eins – zwei – eins, zwei, drei, vier …»
Andreas Käsermann